Kasseler – Kasselaner – Kasseläner

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Axel Herwig, Mäh schallern einen (1980)
Henner Piffendeckel (= Philipp Scheidemann), Casseläner Jungen (1910)
Franz Treller, Was ich me so gedacht hon (3. Aufl. 1895)

Inhaltsverzeichnis

„Kasseler – Kasselaner – Kasseläner“ – ein Sprachscherz

von Werner Guth[1]


„Kasseler ist jemand, der in Kassel zugezogen ist, Kasselaner ist jemand, der in Kassel geboren ist, und Kasseläner ist jemand, dessen Eltern bereits in Kassel geboren sind.“

Diese scherzhafte Definition ist in unterschiedlichen Formulierungen seit Jahrzehnten in Kassel geläufig.[2] Trotz aller Bemühungen konnten Herkunft und Alter dieses Sprachscherzes bisher nicht festgestellt werden.[3] Er dürfte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgekommen sein, kaum früher.


Wörterbuchbelege aus dem 19. Jahrhundert für Kasselaner und Kasseläner

Unter dem Stichwort „Kassel“ schreibt August Vilmar 1868 in seinem „Idiotikon von Kurhessen“ unter anderem folgendes: „Als Idiotismus[4] bemerkenswert ist, daß die Bewohner von Kassel mit der lateinisch-griechischen Endung Kasselaner ganz allgemein genannt werden und sich selbst nennen, eine monströse Abnormität, welche jedoch in der Benennung Hannoveraner ihre Parallele hat.“[5] Den Kasseläner erwähnt Vilmar nicht. Hingegen führt August Grassow in seinem „Wörterbuch der Kasseler Mundart“, abgeschlossen 1894, nur das Stichwort Kasseläner auf mit der Bedeutung „Kasseler“.[6] Daß bei ihm der Kasselaner fehlt, ist einleuchtend: Grassow sammelte Kasseler Mundartausdrücke, Kasselaner sah er wohl eher als hochdeutsches Wort an, vergleichbar mit Bildungen wie z.B. Hannoveraner und Weimaraner.


Beurteilung der drei Bezeichnungen Kasseler, Kasselaner und Kasseläner

Kasseler ist gewissermaßen die Normalform, sowohl hochdeutsch als auch mundartlich[7]. Sie bedarf keiner weiteren Erläuterung.

Kasselaner und ähnliche Bildungen gehen auf den im Mittelalter und darüber hinaus lateinisch bestimmten Sprachgebrauch in Kirche, Urkundenwesen und gelehrter Welt zurück. Ein Bürger von Kassel oder jemand, der aus Kassel stammte, war ein Casselanus. Die lateinische Endung -anus, die eine Zugehörigkeit ausdrückt, wurde – leicht eingedeutscht – vielfach als -aner übernommen (vgl. die Bezeichnungen der Ordenszugehörigkeit Dominicanus > Dominikaner, Franciscanus > Franziskaner) und in dieser Form schließlich als Endung frei verfügbar (vgl. Amerikaner, Kantianer, Veganer usw.). Ob der Kasselaner unmittelbar auf den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Casselanus zurückgeht oder eine davon unabhängige spätere Bildung ist, läßt sich natürlich nicht sagen.

Kasseläner ist diejenige der drei Bezeichnungen, die tatsächlich erklärungsbedürftig bleibt, denn der Umlaut -ä- hat weder im Hochdeutschen eine lautgesetzliche Grundlage, noch beruht er auf einem Lautgesetz des Niederhessischen, zu dem die Kasseler Mundart gehört.

Einen Hinweis zur Klärung gibt der ältere Sprachgebrauch. Hier seien einige Titel und Untertitel von Büchern bekannter Kasseler Mundartautoren vom Ende des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts betrachtet: Einerseits „Casseläner Jungen“, „Kasseläner Geschichderchen“, „Gedichte in Casseläner Mundart“, „Kasseläner Verzählungen“, „Kasseläner Gauden“[8], andererseits „Erinnerungen eines alten Kasselaners“, „Erlebnisse … eines alten Casselaners“[9]. Der unterschiedliche Sprachgebrauch ist offenbar nicht willkürlich. Bei der Bezeichnung des Einwohners von Kassel wird der Begriff Kasselaner bevorzugt, er ist Substantiv, wohingegen Kasseläner meist attributiv steht, sozusagen als unveränderliches Adjektiv.[10]

Es gibt zu Kassel die alte Adjektivbildung kasselänisch (dialektal kasselänsch[11]) abgeleitet von Kasselaner, neuerdings wieder aufgegriffen von Axel Herwig[12]. Die Endung -isch bewirkt regulär Umlaut, vgl. z.B. Frankefränkisch, Sachsesächsisch, Franzosefranzösisch, dementsprechend also auch Kasselanerkasselänisch.[13] Das -ä- des Adjektivs kasselänisch bzw. kasselänsch ist ganz offensichtlich auf Kasselaner, sofern attributiv – also wie ein Adjektiv – gebraucht, übertragen worden und ergab die Form Kasseläner.


Fazit

Das Gefühl für den eigentlich nicht unbeträchtlichen Unterschied zwischen Kasselaner und Kasseläner hat sich im Lauf der Zeit offensichtlich mehr und mehr verloren. So konnten schließlich die zwei Begriffe als gleichwertig und austauschbar erscheinen, Kasseläner – sicherlich wegen der größeren Abweichung vom Hochdeutschen – dann sogar als dialektgemäßer. Erst jetzt konnte jener Sprachscherz entstehen, um den es hier geht. Es besteht allerdings keinerlei Grund, diejenigen, die in Kassel zu Hause sind, nach einem bloßen Sprachscherz im Hinblick auf ihre Vorfahren zu sortieren. Die traditionelle Bezeichnung Kasselaner für alle in Kassel Verwurzelten gilt nach wie vor.[14]

Quellen

  • Grassow, August: Wörterbuch der Kasseler Mundart [Manuskript-Abschluß 1894]. Hrsg. u. erw. v. Paul Heidelbach. Kassel 1952.
  • Vilmar, August Friedrich Christian: Idiotikon von Kurhessen. Marburg u. Leipzig 1868.

Querverweise

Anmerkungen

  1. Für KasselWiki erstell 2012, errgänzt 2013.
  2. Von Axel Herwig 1977 in sein Wörterbuch der Kasseler Mundart Kasselänisch von A bis Z (S. 66 f.) aufgenommen, auch 1980 in den Untertitel seines Liederbuchs Mäh schallern einen: „Ein Liederbuch für Kasseler, Kasselaner und Kasseläner“ (s. Abb. 1). – Vgl. auch Heinrich Keim, Kassel von A – Z. Das Lexikon der Kasseläner Begriffe. Gudensberg-Gleichen 2003. S. 63 f.
  3. Für Hinweise wären wir sehr dankbar. Kontaktaufnahme: s. Impressum.
  4. Wortschatzeigentümlichkeit.
  5. Vilmar, S. 194 f.
  6. Grassow, S. 48.
  7. Vgl. etwa das bekannte „Kaßler Wertchen“ (Kasseler Wörtchen).
  8. Oswald Angersbach, Konrad Berndt, Hermann Elsebach, Paul Heidelbach, Philipp Scheidemann, Gustav Wentzell.
  9. Gottlob Theuerkauf, Franz Treller.
  10. Abweichend Heinrich Jonas: Fimf Geschichderchen vun Kasseläneren, die de in der Wulle gefärwed sin. Kassel 1899.
  11. Grassow, S. 48: kasselänsch „kasselisch“.
  12. Siehe Anmerkung 1.
  13. Der regionale Sprachgebrauch ist im Hinblick auf die Bildungsweise von kasselän(i)sch regelkonformer, das heißt altertümlicher, als das moderne Hochdeutsch, in dem es beispielsweise Amerika, Amerikaner, amerikanisch (nicht etwa amerikänisch) heißt. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit läßt sich daraus schließen, daß die Bildung kasselän(i)sch recht alt ist. Das hieße natürlich, daß die Ableitungsgrundlage Kasselaner ebenfalls recht hohen Alters wäre.
  14. Wolfgang Hermsdorff z. B. benutzt durchweg die althergebrachte Bezeichnung Kasselaner.


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