Als Kassel noch en kleines Nest

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::::'''Als Kassel noch en kleines Nest, das äss schunt lange her'''<br />
 
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::::Als Kassel noch en kleines Nest, das äss schunt lange her,<br />
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::::Als Kassel<ref>''Als Kassel'' statt dialektgemäßer ''Wie Kassel'': Das Niederhessische und damit auch das Kasselänsche kennt ''als'' nicht als temporale Nebensatz-Konjunktion, sondern nur ''wie''.</ref> noch en kleines Nest, das äss<ref><<<''äss'' „ist" (1. Str.) ist ländlich eingefärbte Aussprache von ''is'' (''es''). Hier macht sich die sog. „niederhessische Senkung" bemerkbar (wie auch bei dem angeblichen Kasseler Wörtchen ''Schäß''; richtiger: ''Schiß''). Erklärung hierfür: Der Dialektgebrauch bei den einfachen Leuten (der städtischen Unterschicht) war durch verstärkten Zuzug vom Umland im 19. Jahrhundert z. T. entsprechend eingefärbt. Jonas z. B. unterscheidet in der Schreibung zwischen ''es'' „ist" und ''äs'' „es".</ref> schunt lange her,<br />
::::De „Fulda" damals „Fulle" hieß, das weiß me heit nit mehr,<br />
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::::De „Fulda" damals<ref>''damals'' ist als Druckfehler anzusehen: In der 7. Str. heißt es richtig ''domols''.</ref> „Fulle" hieß, das weiß me heit nit mehr,<br />
 
::::Ne Wasserleitung gab's noch nit, wie jetz in jedem Huss,<br />
 
::::Ne Wasserleitung gab's noch nit, wie jetz in jedem Huss,<br />
 
::::Zum Wasserholen mußte dann d's Karline owends nus.<br />
 
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::::Am zweiten Pingstdag, wie bekannt, do ging's noh Wihelmsheh,<br />
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::::Am zweiten Pingstdag, wie bekannt<ref>''bekannt'' und ''genannt'' (4. Str.) ist hochdeutsch; mundartgemäßer: ''bekennt'' und ''genennt''.</ref>, do ging's<ref>''do ging's'' ist hochdeutsch, mundartgemäßer: ''do gung's''.</ref> noh Wihelmsheh,<br />
 
::::Elektrische<ref>''Elektrische'' „elektrische Straßenbahn", im Gegensatz zur früheren Pferde- und Dampfbahn.</ref>, die gab's noch nit, ze Fuß ging's in de Heh.<br />
 
::::Elektrische<ref>''Elektrische'' „elektrische Straßenbahn", im Gegensatz zur früheren Pferde- und Dampfbahn.</ref>, die gab's noch nit, ze Fuß ging's in de Heh.<br />
::::De „Ahle" wurde mitgeschleift, se machte korzen Schritt,<br />
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::::De „Ahle" wurde<ref>''wurde'',richtiger: ''wurr''.</ref> mitgeschleift, se machte korzen Schritt,<br />
 
::::De Kinner brachten Leiwerchen<ref>''Leiwerchen'' (Plural von ''Laibchen'') „Laibchen" („kleine Laibe"), brötchenähnliche Gebäckstücke unterschiedlicher Art: Milchbrötchen, Franzbrötchen, Pariser (''Bariser''); ''Abbellaiwerchen'': in Teigumhüllung gebackene Äpfel.</ref> un Frikadellen mit.<br />
 
::::De Kinner brachten Leiwerchen<ref>''Leiwerchen'' (Plural von ''Laibchen'') „Laibchen" („kleine Laibe"), brötchenähnliche Gebäckstücke unterschiedlicher Art: Milchbrötchen, Franzbrötchen, Pariser (''Bariser''); ''Abbellaiwerchen'': in Teigumhüllung gebackene Äpfel.</ref> un Frikadellen mit.<br />
 
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::::En Schwinnehirt gab's frieher noch, den Ahlen wohl bekannt,<br />
 
::::En Schwinnehirt gab's frieher noch, den Ahlen wohl bekannt,<br />
 
::::Der „Schinkenwillem"<ref>''Schinkenwillem'': Schweinehirt, Kasseler Original, wohl Mitte des 19. Jh. Nach mündlicher Überlieferung lockte er peitscheknallend die Schweine der Kasseler auf die Straße; er pflegte die Schweine mit den Namen ihrer Besitzer anzureden. Beim herbstlichen Kleinkrieg mit den Rothenditmoldern führte der Schinkenwillem die Kasseler Streitmacht an.</ref> wurde hä bieh uns korzweck genannt.<br />
 
::::Der „Schinkenwillem"<ref>''Schinkenwillem'': Schweinehirt, Kasseler Original, wohl Mitte des 19. Jh. Nach mündlicher Überlieferung lockte er peitscheknallend die Schweine der Kasseler auf die Straße; er pflegte die Schweine mit den Namen ihrer Besitzer anzureden. Beim herbstlichen Kleinkrieg mit den Rothenditmoldern führte der Schinkenwillem die Kasseler Streitmacht an.</ref> wurde hä bieh uns korzweck genannt.<br />
::::Hä ging mit sinnen Schwinnerchen recht liebedätschig um,<br />
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::::Hä ging mit sinnen Schwinnerchen recht liebedätschig um<ref>''um'', richtiger: ''imme''.</ref>,<br />
::::Denn sinne liewen „Kinnerchen", die waren nit so dumm.<br />
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::::Denn<ref>''denn'', richtiger: ''dann''.</ref> sinne liewen „Kinnerchen", die waren nit so dumm.<br />
 
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::::Au Druselplanzen gab's bie uns, im Druseldormer Deich,<br />
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::::Au Druselplanzen gab's bie uns, im Druseldormer Deich<ref>Halbhochdeutsch ''Deich'' statt richtigerem ''Dich'' "Teich"; ''Deich'' bedeutet im Dialekt allein "Teig". Zum "Druselturmer Teich" siehe [[Druselturm]].</ref>,<br />
 
::::Von Fischen war zwar nix ze sehn, nur recht vähl Frosche-Leich.<br />
 
::::Von Fischen war zwar nix ze sehn, nur recht vähl Frosche-Leich.<br />
 
::::Wann's brennen dahd un's dudede der Nachtwächter vom Dorm,<br />
 
::::Wann's brennen dahd un's dudede der Nachtwächter vom Dorm,<br />
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::::Das Reiwernest, de „Kattenborg"<ref>[[Landgrafenschloß|''Kattenborg'']] „Chattenburg": volkstümliche Bezeichnung für den bis zum Erdgeschoß aufgeführten und dann aufgegebenen Neubau des Stadtschlosses an der Fulda, das unter König Jerome abgebrannt war (Standort des späteren Regierunspräsidiums).</ref>, do gab's so manchen Feez,<br />
 
::::Das Reiwernest, de „Kattenborg"<ref>[[Landgrafenschloß|''Kattenborg'']] „Chattenburg": volkstümliche Bezeichnung für den bis zum Erdgeschoß aufgeführten und dann aufgegebenen Neubau des Stadtschlosses an der Fulda, das unter König Jerome abgebrannt war (Standort des späteren Regierunspräsidiums).</ref>, do gab's so manchen Feez,<br />
::::Do kroffen mäh un kledderden, fiel mancher uff'n Deetz.<br />
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::::Do kroffen mäh un kledderden, fiel mancher<ref>''mancher'', richtiger: ''mäncher''</ref> uff'n Deetz.<br />
 
::::Mäh rutschden dann un krabbelden bis an das Fehmgerichd,<br />
 
::::Mäh rutschden dann un krabbelden bis an das Fehmgerichd,<br />
::::Un wer sich doh nit hingewagt, der war en armer Wichd.<br />
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::::Un wer sich doh nit hingewagt<ref>''hingewagt''; richtiger: ''hingewogt'' (bzw. ''hingewoocht''): offenes ''o'' wie in ''Stroße'', ''Bloose''.</ref>, der war en armer Wichd.<br />
 
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::::En jeder Birger schlachdede au domols noch sinn Schwinn,<br />
 
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::::Au „Eckensteher" gab's bieh uns, am Altmarkt dahden se stehn,<br />
 
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::::Sä fleezden sich un räkelden, 's war manchmoh nit mehr scheen.<br />
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::::Sä fleezden sich un räkelden, 's war manchmoh<ref>''manchmoh'', richtiger: ''mänchmoh''.</ref> nit mehr scheen.<br />
 
::::Gemiesenamen hadden se bieh jeden ahngebrachd,<br />
 
::::Gemiesenamen hadden se bieh jeden ahngebrachd,<br />
::::Gälriewe, Gorke, Schnibbelbohn, die stannen vor der Schlagd.<br />
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::::Gälriewe, Gorke, Schnibbelbohn, die stannen<ref>''stannen'' (halbhochdeutsch), richtiger: ''stunnen'' „standen".</ref> vor der Schlagd.<br />
 
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::::Wann das de seel'ge Dibbenfrau<ref>''Dibbenfrau, die Dibben-Millern'': Marie Magdalene Müller (1796 – 1886), Frau und seit 1848 Witwe eines Töpfermeisters, war mit ihrem Stand mit Irdenware ein halbes Jahrhundert lang Wahrzeichen des Königsplatzes.</ref> nur eimoh kennde sehn,<br />
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::::Wann das de seel'ge Dibbenfrau<ref>''Dibbenfrau, die Dibben-Millern'': Marie Magdalene Müller (1796 – 1886), Frau und seit 1848 Witwe eines Töpfermeisters, war mit ihrem Stand mit Irdenware ein halbes Jahrhundert lang Wahrzeichen des Königsplatzes.</ref> nur eimoh kennde<ref>''kennde'', richtiger: ''kinnde''.</ref> sehn,<br />
::::Daß jetzt so iwwern Kenigsplatz de Wagen dähden gehn,<br />
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::::Daß jetzt so iwwern Kenigsplatz de Wagen dähden<ref><<<''dähden'', richtiger: ''dehden''; von hochdeutsch ''täten'' beeinflußt.</ref> gehn,<br />
::::Se wirde gahken firchderlich un machen groß Geschrei:<br />
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::::Se wirde<ref>''wirde'' statt ''wirr'' „würde". Im übrigen ist die Konjunktiv-Umschreibung mit „würde" hochdeutsch; niederhessisch-kasselänsch wird umschrieben mit ''dehde'' „täte" (richtig s. Zeile zuvor).</ref> gahken firchderlich<ref>''firchderlich'', richtiger: ''firderlich''.</ref> un machen groß Geschrei:<br />
::::Dä liewen Kinner, fahrt mäh doch de Dibben nit entzwei.<br />
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::::Dä liewen Kinner, fahrt mäh doch de Dibben nit entzwei<ref>''entzwei'', richtiger ''inzwei''.</ref>.<br />
  
 
==Quelle==
 
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==Literatur==
==Webers Sprache==
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1) ''Als Kassel'' (1. Str.) statt ''Wie Kassel'': Das Niederhessische und damit auch das Kasselänsche kennt ''als'' nicht als temporale Nebensatz-Konjunktion, sondern nur ''wie''. – 2) ''äss'' „ist" (1. Str.) ist ländlich eingefärbte Aussprache von ''is'' (''es''). Hier macht sich die sog. „niederhessische Senkung" bemerkbar (wie auch bei dem angeblichen Kasseler Wörtchen ''Schäß''; richtiger: ''Schiß''). Erklärung hierfür: Der Dialektgebrauch bei den einfachen Leuten (der städtischen Unterschicht) war durch verstärkten Zuzug vom Umland im 19. Jahrhundert z. T. entsprechend eingefärbt. Jonas z. B. unterscheidet in der Schreibung zwischen ''es'' „ist" und ''äs'' „es". – 3) ''damals'' (1. Str.) ist als Druckfehler anzusehen: In der 7. Str. heißt es richtig ''domols''. – 4) ''bekannt'' ((2. Str.), ''genannt'' (4. Str.) statt ''bekennt'' und ''genennt''. – 5) ''do ging's'' (2. Str.) statt ''do gung's''. – 6) ''wurde'' (2. Str.) statt ''wurr''. – 7) ''um'' (4. Str.) statt ''imme''. – 8) ''Denn'' (4. Str.) statt ''Dann''. – 9) ''Deich'' (5. Str.) statt ''Dich'' "Teich"; ''Deich'' bedeutet "Teig". – 10) ''hingewagt'' (6. Str.) statt ''hingewogt'' (bzw. ''hingewoocht''): offenes ''o'' wie in ''Stroße'', ''Bloose''. – 11) ''manchmoh'' (8. Str.) statt ''mänchmoh''. – 12) ''stannen'' (8. Str.) statt ''stunnen'' „standen". – 13) ''kennde'' (9. Str.) statt ''kinnde''. – 14) ''dähden'' (9.Str.) statt ''dehden''; von hochdeutsch ''täten'' lautlich beeinflußt. – 15) ''wirde'' (9. Str.) statt ''wirr'' „würde". Im übrigen ist die Konjunktiv-Umschreibung mit „würde" hochdeutsch; niederhessisch-kasselänsch wird umschrieben mit ''dehde'' „täte" (richtig s. Zeile zuvor). – 16) ''firchderlich'' (9. Str.) statt ''firderlich''. – 17) ''entzwei'' (9. Str.) statt ''inzwei''.
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Werner Guth 2012
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==Quellen zum Artikel==
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* [http://www.nuernbergwiki.de/index.php/Werner_Guth Guth, Werner]: ''Der Kasseler Mundartdichter Gustav Weber''. In: Der Mundart-Kurier 9, 2007, S. 8. - Mit Abdruck des Textes nach Heidelbach sowie mit Kommentierung.
 
* [http://www.nuernbergwiki.de/index.php/Werner_Guth Guth, Werner]: ''Der Kasseler Mundartdichter Gustav Weber''. In: Der Mundart-Kurier 9, 2007, S. 8. - Mit Abdruck des Textes nach Heidelbach sowie mit Kommentierung.
  
 
* [[Paul Heidelbach|Heidelbach, Paul]]: ''Kasseler Mundartdichter''. In: [[August Grassow]]: ''Wörterbuch der Kasseler Mundart''. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 6 ff.
 
* [[Paul Heidelbach|Heidelbach, Paul]]: ''Kasseler Mundartdichter''. In: [[August Grassow]]: ''Wörterbuch der Kasseler Mundart''. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 6 ff.
  
==Weitere Literatur==
 
* [[Wolfgang Hermsdorff|Hermsdorff, Wolfgang]]: ''Ein glänzender Stegreifpoet. Gustav Weber war als Colomus-Präsident stadtbekannt.'' (Kasseler Deutsch und seine Dichter 6.) In: Hess. Allgemeine v. 14. 12. 1968. - Mit Textwiedergabe, offenbar nach Heidelbach.
 
  
 
==Querverweise==
 
==Querverweise==
 
* [[Gustav Weber]]
 
* [[Gustav Weber]]
 
* [[Kasseler Mundart]]
 
* [[Kasseler Mundart]]

Version vom 13. Januar 2013, 10:40 Uhr


Gustav Weber

Lied in Kasseler Mundart von Gustav Weber (1842 – 1917), Text entstanden vermutlich in den 1880er Jahren, anonym veröffentlicht 1913 im Kasseler Tageblatt, zu singen nach der Melodie des Kreuzfidelen Kupferschmieds (Heidelbach, S. 10); ist auch bekannt als Kassel-Lied.

Inhaltsverzeichnis

Text


Als Kassel noch en kleines Nest, das äss schunt lange her


Als Kassel[1] noch en kleines Nest, das äss[2] schunt lange her,
De „Fulda" damals[3] „Fulle" hieß, das weiß me heit nit mehr,
Ne Wasserleitung gab's noch nit, wie jetz in jedem Huss,
Zum Wasserholen mußte dann d's Karline owends nus.


Am zweiten Pingstdag, wie bekannt[4], do ging's[5] noh Wihelmsheh,
Elektrische[6], die gab's noch nit, ze Fuß ging's in de Heh.
De „Ahle" wurde[7] mitgeschleift, se machte korzen Schritt,
De Kinner brachten Leiwerchen[8] un Frikadellen mit.


De Wecke waren friehrer Zitt gerad nochmoh so groß,
Gewogen sinn se domols nit, es ging noh ahlem Moß.
„Bariser" gab's biehm Buchenhorst, vor'n Silwergroschen drei,
De Bäckerdaxe machte doch noch unse Bollezei.


En Schwinnehirt gab's frieher noch, den Ahlen wohl bekannt,
Der „Schinkenwillem"[9] wurde hä bieh uns korzweck genannt.
Hä ging mit sinnen Schwinnerchen recht liebedätschig um[10],
Denn[11] sinne liewen „Kinnerchen", die waren nit so dumm.


Au Druselplanzen gab's bie uns, im Druseldormer Deich[12],
Von Fischen war zwar nix ze sehn, nur recht vähl Frosche-Leich.
Wann's brennen dahd un's dudede der Nachtwächter vom Dorm,
Dann lief der Druseldeich glich us, un drinne blieb kinn Worm.


Das Reiwernest, de „Kattenborg"[13], do gab's so manchen Feez,
Do kroffen mäh un kledderden, fiel mancher[14] uff'n Deetz.
Mäh rutschden dann un krabbelden bis an das Fehmgerichd,
Un wer sich doh nit hingewagt[15], der war en armer Wichd.


En jeder Birger schlachdede au domols noch sinn Schwinn,
Bieh'm Schlachden gab's ne Kieweschelle[16] ahlen Branntewinn.
Ne ahle Worschd, die wurde dann en „Dirrer Hund" genannt,
In heit'ger Zidd äs so ne Worschd den meisten nit bekannt.


Au „Eckensteher" gab's bieh uns, am Altmarkt dahden se stehn,
Sä fleezden sich un räkelden, 's war manchmoh[17] nit mehr scheen.
Gemiesenamen hadden se bieh jeden ahngebrachd,
Gälriewe, Gorke, Schnibbelbohn, die stannen[18] vor der Schlagd.


Wann das de seel'ge Dibbenfrau[19] nur eimoh kennde[20] sehn,
Daß jetzt so iwwern Kenigsplatz de Wagen dähden[21] gehn,
Se wirde[22] gahken firchderlich[23] un machen groß Geschrei:
Dä liewen Kinner, fahrt mäh doch de Dibben nit entzwei[24].

Quelle

  • Heidelbach, Paul: Kasseler Mundartdichter. In: August Grassow: Wörterbuch der Kasseler Mundart. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 11.

Nachleben des Liedes

Als Kassel noch en kleines Nest ist Gustav Webers „bekanntestes Lied, dessen Beliebtheit auch dadurch belegt ist, daß es im Lauf der Zeit von andern durch zahlreich Strophen vermehrt wurde" (Heidelbach, S. 10). Es wurden auch Strophen weggelassen oder verändert. Eine häufig feststellbare Änderung ist die der ersten Zeile „Als Kassel noch en kleines Nest" in „Als Kassel noch en ahles Nest", was sinnentstellend ist. In welcher Form auch immer – das Lied wird auch heute noch – nach dem Jahre 2000 – in Vereinen und bei Festveranstaltungen gesungen.

Erläuterungen[25]

Der Schlesier Gustav Weber war „gelernter" Kasseler. Sein Verständnis der Kassler Mundart basiert sicherlich auf der leicht hochdeutsch, aber auch ländlich durchmischten Umgangssprache, die er in Kassel kennen gelernt hatte, die aber andere Mundartautoren seiner Zeit vermieden (z. B. Heinrich Jonas).

  1. Als Kassel statt dialektgemäßer Wie Kassel: Das Niederhessische und damit auch das Kasselänsche kennt als nicht als temporale Nebensatz-Konjunktion, sondern nur wie.
  2. <<<äss „ist" (1. Str.) ist ländlich eingefärbte Aussprache von is (es). Hier macht sich die sog. „niederhessische Senkung" bemerkbar (wie auch bei dem angeblichen Kasseler Wörtchen Schäß; richtiger: Schiß). Erklärung hierfür: Der Dialektgebrauch bei den einfachen Leuten (der städtischen Unterschicht) war durch verstärkten Zuzug vom Umland im 19. Jahrhundert z. T. entsprechend eingefärbt. Jonas z. B. unterscheidet in der Schreibung zwischen es „ist" und äs „es".
  3. damals ist als Druckfehler anzusehen: In der 7. Str. heißt es richtig domols.
  4. bekannt und genannt (4. Str.) ist hochdeutsch; mundartgemäßer: bekennt und genennt.
  5. do ging's ist hochdeutsch, mundartgemäßer: do gung's.
  6. Elektrische „elektrische Straßenbahn", im Gegensatz zur früheren Pferde- und Dampfbahn.
  7. wurde,richtiger: wurr.
  8. Leiwerchen (Plural von Laibchen) „Laibchen" („kleine Laibe"), brötchenähnliche Gebäckstücke unterschiedlicher Art: Milchbrötchen, Franzbrötchen, Pariser (Bariser); Abbellaiwerchen: in Teigumhüllung gebackene Äpfel.
  9. Schinkenwillem: Schweinehirt, Kasseler Original, wohl Mitte des 19. Jh. Nach mündlicher Überlieferung lockte er peitscheknallend die Schweine der Kasseler auf die Straße; er pflegte die Schweine mit den Namen ihrer Besitzer anzureden. Beim herbstlichen Kleinkrieg mit den Rothenditmoldern führte der Schinkenwillem die Kasseler Streitmacht an.
  10. um, richtiger: imme.
  11. denn, richtiger: dann.
  12. Halbhochdeutsch Deich statt richtigerem Dich "Teich"; Deich bedeutet im Dialekt allein "Teig". Zum "Druselturmer Teich" siehe Druselturm.
  13. Kattenborg „Chattenburg": volkstümliche Bezeichnung für den bis zum Erdgeschoß aufgeführten und dann aufgegebenen Neubau des Stadtschlosses an der Fulda, das unter König Jerome abgebrannt war (Standort des späteren Regierunspräsidiums).
  14. mancher, richtiger: mäncher
  15. hingewagt; richtiger: hingewogt (bzw. hingewoocht): offenes o wie in Stroße, Bloose.
  16. Kieweschelle „Kuhschelle, Schnapsglas"; mittleres Branntweingemäß, entspricht einem Halkännchen („halben Kännchen"). Das größere Maß, also das Kännchen, wurde in einem Fläschchen mit Biesetzegläschen serviert. Das kleinste war ein Wirfchen „Würfchen". Das Wirfchen wurde gezwicket, d. h. „gekippt", also in einem Zug getrunken.
  17. manchmoh, richtiger: mänchmoh.
  18. stannen (halbhochdeutsch), richtiger: stunnen „standen".
  19. Dibbenfrau, die Dibben-Millern: Marie Magdalene Müller (1796 – 1886), Frau und seit 1848 Witwe eines Töpfermeisters, war mit ihrem Stand mit Irdenware ein halbes Jahrhundert lang Wahrzeichen des Königsplatzes.
  20. kennde, richtiger: kinnde.
  21. <<<dähden, richtiger: dehden; von hochdeutsch täten beeinflußt.
  22. wirde statt wirr „würde". Im übrigen ist die Konjunktiv-Umschreibung mit „würde" hochdeutsch; niederhessisch-kasselänsch wird umschrieben mit dehde „täte" (richtig s. Zeile zuvor).
  23. firchderlich, richtiger: firderlich.
  24. entzwei, richtiger inzwei.
  25. Zum Teil nach Heidelbach 1952 und Guth 2007.

Literatur

  • Guth, Werner: Der Kasseler Mundartdichter Gustav Weber. In: Der Mundart-Kurier 9, 2007, S. 8. - Mit Abdruck des Textes nach Heidelbach sowie mit Kommentierung.
  • Heidelbach, Paul: Kasseler Mundartdichter. In: August Grassow: Wörterbuch der Kasseler Mundart. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 6 ff.


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