Als Kassel noch en kleines Nest

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Gustav Weber

„Als Kassel noch en kleines Nest“, Lied in Kasseler Mundart, auch bekannt als „Kassel-Lied“.

Text von Gustav Weber (1842 – 1917), veröffentlicht 1913[1], zu singen nach der Melodie des „Kreuzfidelen Kupferschmieds“[2].

Inhaltsverzeichnis

Text


Als Kassel noch en kleines Nest, das äss schunt lange her

Als Kassel[3] noch en kleines Nest, das äss[4] schunt lange her,
De „Fulda“ damals[5] „Fulle“ hieß, das weiß me heit nit mehr,
Ne Wasserleitung gab's noch nit, wie jetz in jedem Huss,
Zum Wasserholen mußte dann d's Karline owends nus.

Am zweiten Pingstdag, wie bekannt[6], do ging's[7] noh Wihelmsheh,
Elektrische[8], die gab's noch nit, ze Fuß ging's in de Heh.
De „Ahle“ wurde[9] mitgeschleift, se machte korzen Schritt,
De Kinner brachten Leiwerchen[10] un Frikadellen mit.

De Wecke[11] waren friehrer Zitt gerad nochmoh so groß,
Gewogen sinn se domols nit, es ging noh ahlem Moß.
„Bariser“ gab's biehm Buchenhorst, vor'n Silwergroschen drei,
De Bäckerdaxe machte doch noch unse Bollezei.

En Schwinnehirt gab's frieher noch, den Ahlen wohl bekannt,
Der „Schinkenwillem“[12] wurde hä bieh uns korzweck genannt.
Hä ging mit sinnen Schwinnerchen recht liebedätschig[13] um[14],
Denn[15] sinne liewen „Kinnerchen“, die waren nit so dumm.

Au Druselplanzen gab's bie uns, im Druseldormer Deich[16],
Von Fischen war zwar nix ze sehn, nur recht vähl Frosche-Leich.
Wann's brennen dahd un's dudede der Nachtwächter vom Dorm,
Dann lief der Druseldeich glich us[17], un drinne blieb kinn Worm.

Das Reiwernest, de „Kattenborg“[18], do gab's so manchen[19] Feez,
Do kroffen[20] mäh un kledderden, fiel mancher uff'n Deetz.
Mäh rutschden dann un krabbelden bis an das Fehmgerichd[21],
Un wer sich doh nit hingewagt[22], der war en armer Wichd.

En jeder Birger schlachdede au domols noch sinn Schwinn,
Bieh'm Schlachden gab's ne Kieweschelle[23] ahlen Branntewinn.
Ne ahle Worschd, die wurde dann en „Dirrer Hund“ genannt,
In heit'ger Zidd äs so ne Worschd den meisten nit bekannt.

Au „Eckensteher“ gab's bieh uns, am Altmarkt dahden se stehn,
Sä fleezden sich un räkelden, 's war manchmoh[24] nit mehr scheen.
Gemiesenamen hadden se bieh jeden ahngebrachd,
Gälriewe, Gorke, Schnibbelbohn, die stannen[25] vor der Schlagd.

Wann das de seel'ge Dibbenfrau[26] nur eimoh kennde[27] sehn,
Daß jetzt so iwwern Kenigsplatz de Wagen dähden[28] gehn,
Se wirde[29] gahken firchderlich[30] un machen groß Geschrei:
Dä liewen Kinner, fahrt mäh doch de Dibben nit entzwei[31].

Nachleben des Liedes

„Als Kassel noch en kleines Nest“ ist Gustav Webers „bekanntestes Lied, dessen Beliebtheit auch dadurch belegt ist, daß es im Lauf der Zeit von andern durch zahlreich Strophen vermehrt wurde“ (Heidelbach, S. 10). Es wurden auch Strophen weggelassen oder verändert. Eine häufig feststellbare Änderung ist die der ersten Zeile „Als Kassel noch en kleines Nest“ in „Als Kassel noch en ahles Nest“, was sinnentstellend ist. In welcher Form auch immer – das Lied wird auch heute noch – nach dem Jahre 2000 – in Vereinen und bei Festveranstaltungen gesungen.

Erläuterungen

Der Schlesier Gustav Weber war „gelernter“ Kasseler. Sein Verständnis der Kassler Mundart basiert sichtlich auf der leicht hochdeutsch, aber auch leicht ländlich durchmischten Umgangssprache, die er in Kassel kennen gelernt hatte, die andere Mundartautoren seiner Zeit jedoch eher vermieden (z. B. der gleichaltrige gebürtige Kasselaner Heinrich Jonas).

  1. Heidelbach 1952, Mundartdichter, S. 10, schreibt, das „Kasseler Tageblatt“ habe das Lied am 28.September 1913 anonym gebracht als „Erinnerungen eines alten Kasseläners“, und urteilt, ohne allerdings eine Begründung dafür zu geben: „Das Lied stammt spätestens aus den 1880[er] Jahren.“ Das kann kaum zutreffen. Den von Weber gewählten Titel des Liedes sollte man ernst nehmen. Wäre das Lied tatsächlich „spätestens“ in den 80er Jahren geschrieben worden, wäre Weber etwa 40 bis 45 Jahre alt gewesen, also keineswegs ein alter Mann, der seine Erinnerungen aufschreibt. Vor allem aber: In der zweiten Strophe wird die „Elektrische“ erwähnt, die nach Wilhelmshöhe führt. Die Umstellung der Straßenbahn vom Dampf- und Pferdebetrieb auf elektrischen Betrieb fand 1898 bis 1899 statt; die Strecke nach Wilhelmshöhe wurde 1899 elektrifiziert. Das Lied wird vermutlich nicht lange vor seiner Erstveröffentlichung 1913 entstanden sein.
  2. Heidelbach 1952, Mundartdichter, S. 10.
  3. Als Kassel: dialektgemäßer wäre Wie Kassel: Das Niederhessische und damit auch das Kasselänsche kennt als nicht als temporale Nebensatz-Konjunktion, sondern nur wie.
  4. äss „ist“ ist ländlich eingefärbte Aussprache von is (es). Hier macht sich die sog. „niederhessische Senkung“ bemerkbar (wie auch bei dem angeblichen Kasseler Wörtchen Schäß; richtiger: Schiß). Erklärung hierfür: Der Dialektgebrauch bei den einfachen Leuten (der städtischen Unterschicht) war durch verstärkten Zuzug vom Umland im 19. Jahrhundert teilweise entsprechend eingefärbt. Jonas z. B. unterscheidet in der Schreibung und damit in der Aussprache zwischen es „ist“ und äs „es“. Vgl. Hierzu auch Jacob Grimms Anmerkung zu seinen Gleichnisübetragungen 1816.
  5. damals ist als Druckfehler anzusehen: In der 7. Str. heißt es richtig domols.
  6. bekannt und genannt (4. Str.) sind hochdeutsche Formen; mundartgemäßer: bekennt und genennt.
  7. ging's ist hochdeutsch, mundartgemäßer: gung's.
  8. Elektrische „elektrische Straßenbahn“, im Gegensatz zur früheren Pferde- und Dampfbahn.
  9. wurde, richtiger: wurr.
  10. Leiwerchen (Plural von Laibchen) „Laibchen“ („kleine Laibe“), brötchenähnliche Gebäckstücke unterschiedlicher Art: Milchbrötchen, Franzbrötchen, Pariser (Bariser); Abbellaiwerchen: in Teigumhüllung gebackene Äpfel.
  11. der Wecke, Pl. unverändert: die Wecke „Brötchen“.
  12. Schinkenwillem: Schweinehirt, Kasseler Original, Mitte des 19. Jahrhunderts. Nach mündlicher Überlieferung lockte er peitscheknallend die Schweine der Kasseler auf die Straße; er pflegte die Schweine mit den Namen ihrer Besitzer anzureden.
  13. liebedätschig „liebevoll (streichelnd)“, von dätscheln „betasten, streicheln“.
  14. um, richtiger: imme.
  15. denn, richtiger: dann.
  16. Scherz von Weber: er tut scheinheilig so, als seien die Druselplanzen Wasserpflanzen im Teich am Druselturm, meint aber etwas anderes. Druselplanze „Druselpflanze, Mädchen aus der Druselgasse, auch aus den ärmeren Stadtteilen“ (Grassow S. 32). Drusel bedeutet, vom Bachnamen Drusel abgesehen, „Straßengosse, Rinnstein(brühe)“. Druseln durchzogen zur Straßenreinigung viele Altstadtgassen; sie wurden gespeist durch das „Druselwasser" aus dem Teich beim Druselturm. Eine Druselplanze war also ein Mädchen, das sich in den Gassen herumtrieb. – Deich ist Halbhochdeutsch; richtiger: Dich. Deich bedeutet im Dialekt allein „Teig“.
  17. Scherz von Weber: Der Druselteich „lief“ nachts tatsächlich „aus“, aber nicht weil es brannte: Bei Nacht wurde das Druselwasser zur Straßenreinigung in die Druseln abgelassen.
  18. Kattenborg „Chattenburg“: volkstümliche Bezeichnung für den bis zum Erdgeschoß aufgeführten und dann aufgegebenen Neubau des Stadtschlosses an der Fulda, das unter König Jerome abgebrannt war (Standort des späteren Regierunspräsidiums).
  19. manchen, richtiger: mänchen.
  20. kruffen „kriechen“; Stammformen: kruffen – kroff – gekroffen.
  21. Fehmgerichd(e): Gewölbe im Rondell, das von den Einstiegsmöglichkeiten an der Fulda nur kriechend zu erreichen ist.
  22. hingewagt; richtiger: hingewogt (bzw. hingewoocht): offenes o wie in Stroße, Bloose.
  23. Kieweschelle „Kuhschelle, Schnapsglas“; mittleres Branntweingemäß, entspricht einem Halkännchen („halben Kännchen“). Das größere Maß, also das Kännchen, wurde in einem Fläschchen mit Biesetzegläschen serviert. Das kleinste war ein Wirfchen „Würfchen“. Das Wirfchen wurde gezwicket, d. h. „gekippt“, also in einem Zug getrunken.
  24. manchmoh, richtiger: mänchmoh.
  25. stannen (halbhochdeutsch), richtiger: stunnen „standen“.
  26. Dibbenfrau, die Dibben-Millern: Marie Magdalene Müller (1796 – 1886), Frau und seit 1848 Witwe eines Töpfermeisters, war mit ihrem Stand mit Irdenware ein halbes Jahrhundert lang Wahrzeichen des Königsplatzes.
  27. kennde, richtiger: kinnde.
  28. dähden, richtiger: dehden; von hochdeutsch täten beeinflußt.
  29. wirde statt wirr „würde“. Im übrigen ist die Konjunktiv-Umschreibung mit „würde“ hochdeutsch; niederhessisch-kasselänsch wird umschrieben mit dehde „täte“ (richtig s. Zeile zuvor).
  30. firchderlich, richtiger: firderlich.
  31. entzwei, richtiger inzwei.

Erläuterungen für KasselWiki erstellt von Werner Guth 2012, ergänzt 2013.

Quellen

Textquelle:

  • Heidelbach, Paul: Kasseler Mundartdichter. In: August Grassow: Wörterbuch der Kasseler Mundart. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 6 ff. – „Gustav Weber" S. 10, Liedtext S. 11.

Quellen zu den Erläuterungen:

  • Guth, Werner: Der Kasseler Mundartdichter Gustav Weber. In: Der Mundart-Kurier 9, 2007, S. 8. – Mit Abdruck des Liedtextes nach Heidelbach sowie mit Kommentierung.
  • Heidelbach, Paul: Anmerkungen. In: August Grassow: Wörterbuch der Kasseler Mundart. Hrsg. u. erweitert v. Paul Heidelbach. Kassel 1952. S. 91 ff.

Querverweise

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