Der „Fist“

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Von Werner Guth


Jede Sprache macht Anleihen bei Nachbarsprachen, hat also Fremd- und Lehnwörter.

Gelegentlich kommt es vor, daß isoliert stehende oder unverständlich gewordene Wörter einer Sprache zu Unrecht aus einer Fremsprache abgeleitet werden, in denen sich zufällig ein ähnliches Wort findet. So ist es z. B. dem hessischen Dialektwort Fist ‚(kleiner) Junge, Bengel‘ ergangen.

Ich fand vor Jahren in einem Aufsatz zur Kasseler Mundart die Angabe, Fist leite sich her von dem französischen Wort fils (sprich: fiss) ‚Sohn, Junge‘. Dieselbe Angabe macht Horst Hamecher in seinem Heinrich-Jonas-Buch (1992) in bezug auf das Gedicht „Der gerewwene Bechfist“ [...]. Mehrfach gedruckt nehmen solche Vermutungen – denn darum handelt es sich – leicht faktischen Charakter an.

August Grassow gibt in seinem „Wörterbuch der Kasseler Mundart“ von 1894 als Bedeutung von Fist an: „kleiner Junge im Gegensatz zu Lawwes: großer Junge“, ohne auf fremde Herkunft zu verweisen. Das ist insofern bemerkenswert, da Grassow, der Fremdsprachenlehrer war, Lehngut aus dem Französischen und Englischen recht konsequent vermerkt (die angebliche Herkunft von Fist aus dem Französischen scheint also eine Hypothese jüngeren Datums zu sein).

A. C. Vilmar gibt in seinem „Idiotikon von Kurhessen“ von 1868 für Fist außer der „sehr üblichen“ Bedeutung ‚kleiner, schwächlicher hinfälliger, armseliger Mensch‘ noch eine zweite Bedeutung an, nämlich „wie anderwärts: crepitus ventris“. Gemeint ist mit dieser lateinischen Umschreibung schlicht und einfach ‚Furz‘ – oder wohl besser: ‚Fürzchen‘, denn Kluges „Etymologisches Wörterbuch“ (22. Aufl. 1989) gibt für das alte, schon im Mittelhochdeutschen belegte, jetzt nur noch regional verbreitete Wort Fist als Bedeutung an: ‚leiser Bauchwind‘.

Es liegt auf der Hand, was Fist als Bezeichnung für einen Halbwüchsigen tatsächlich ist: nichts anderes als eine mehr oder weniger humorvolle Metapher – eben ‚Fürzchen‘ (vgl. den Kasseler Ausdruck Furzknod(d)en für ein kleines Kind).

Das Wort Fist steht nicht ganz so isoliert in der deutschen Sprachlandschaft, wie es zunächst scheint: Es ist als Zweitglied in dem Pilznamen Bovist enthalten. In mittelhochdeutscher Zeit hieß der Bovist noch vohenvist (beide v sind als f auszusprechen) mit der Bedeutung ‚Füchsinnenfürzchen‘. Wer den heutigen, lautlich etwas veränderten Pilznamen korrekt ausspricht, sagt Bófist mit f und Betonung auf der ersten Silbe. Viele sagen allerdings Bowíst mit w und Betonung auf der zweiten Silbe wie bei Drogist, Maschinist, Prokurist und Polizist: Sie fassen also offensichtlich Bovist als Fremdwort auf. Hierfür spricht scheinbar auch der wissenschaftliche Fachbegriff Bovista, der in Pilzbestimmungsbüchern zu finden ist und Pilzkennern natürlich geläufig ist. Bovista ist jedoch entgegen dem Anschein kein klassisches Latein: Die Bezeichnung ist ein deutscher, zu wissenschaftlichen Zwecken latinisierter Bovist (wie beispielsweise auch die wissenschaftliche Pflanzenbezeichnung Beccabunga eine latinisierte Bachbunge ist, abgeleitet von der niederdeutschen Form Beke für hochdeutsch Bach).

Die alten Griechen nannten jenen Pilz, der die braunen Wölkchen von sich gibt, wenn man darauftritt, pezis. Eine andere altgriechische Bezeichnung des Pilzes ist lyko-perdon ‚Wolfsfurz‘, was der Bedeutung nach dem mittelhochdeutschen vohen-vist recht nahekommt. Pezis und perdon sind verwandte Wörter; außerdem sind sie mit dem deutschen Wort Fist etymologisch verwandt: Es liegt gemeinsames sprachliches Erbe vor.

In den beiden griechischen Pilznamen spiegelt sich eine Unterscheidung, die aufs Indogermanische zurückgeht und auch im Deutschen ihre Spuren hinterlassen hat: Zugrunde liegt eine indogermanische Doppelwurzel, nämlich *pesd- ‚leise furzen‘ und *perd- ‚laut furzen‘. Von Variante 1 stammt unser Wort Fist ab, von 2 das Wort Furz.

Abkömmlinge beider Wurzelvarianten gibt es auch in anderen Sprachen, die wie das Griechische und Germanische Tochtersprachen des Indogermanischen sind: Mit der Bedeutung ‚einen streichen lassen, furzen‘ z. B. russisch perdét, slowenisch pezditi, litauisch pérsti und altindisch párdate.

Busch, W., Popo.jpg

Das menschliche Hinterteil bezeichnen wir gern verharmlosend mit dem lateinischen Wort Podex, denn es klingt so ähnlich wie das kindersprachliche, ebenfalls ganz harmlose Wort Popo. Doch der Podex hat’s faustdick hinter den Ohren, könnte man sagen – wenn er denn welche hätte. Er enthüllt seine wahre Bedeutung, wenn man seine altlateinische Vorform betrachtet:*posd-ek-s. Die Wortbasis ist eine Ablautform von *pesd-; mithin: die ursprüngliche Bedeutung des Podex ist ‚Etwas, das furzt‘ oder ‚Furzer‘.

Für denjenigen, der dies als allzu anstößig empfindet, sei folgendes hinzugefügt: Immerhin ist das Wort Podex nicht von *perd- abgeleitet, sonst hätten wir (mit Ablaut und lautgeschichtlich erhaltenem r) heutzutage einen Pordex mit der ursprünglichen Bedeutung ‚Organ, das l a u t einen krachen läßt‘. Podex ist vielmehr abgeleitet von der „sanfteren“ Wurzelvariante, bedeutet also ursprünglich etwa: ,Organ, das l e i s e einen streichen läßt‘. – Na, immerhin!


Aus: Der Mundart-Kurier – Mitteilungen der Gesellschaft für Nordhessische Mundarten, Nr. 4, 2005, S. 16.

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