Warum eigentlich „ahle“ Wurscht?

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Von Werner Guth


Zu dem hochdeutschen Vokal a gibt es im Niederhessischen und in verwandten Dialekten drei Entsprechungen: a, o und einen zwischen a und o liegenden Laut, ein sog. „offenes o“. Als Langvokal kommt es im Hochdeutschen nicht vor; es läßt sich graphisch auch schlecht wiedergeben: Viele Mundartschreiber setzen einfach ein o dafür, andere oa, wieder andere den skandinavischen Buchstaben å, den ich der Eindeutigkeit wegen auch im folgenden benutzen will.

Auf einem Dorf hinter Fritzlar sagte mir einmal jemand, die Kasseler Mundart sei halbes Hochdeutsch, und führte zur Begründung an, in Kassel sage man z. B. fahren, Nase, Namen, es heiße aber doch in korrektem Niederhessisch fåhren, Nåse, Nåmen. Ich als Kasseler beharrte auf der Richtigkeit von fahren usw. und entgegnete, das Kasselänsche kenne å für hochdeutsches a durchaus, aber bei anderen Wörtern: es heiße z. B. Stråße, Stråhl, måh (‚mal‘), woraufhin er einwandte, korrekterweise heiße es Stroße, Strohl, moh (also mit geschlossenem o). Die „ahle Wurscht“ war mir nicht eingefallen, bei der wir uns auf ein klares a in der Aussprache hätten einigen können.

Ahle Wurscht. -- Graphik von I. Pohlmann (1996), Wabern.

Was hat es mit diesen a-, å- und o-Lauten an Stelle von hochdeutschem a auf sich? Sind die Unterschiede willkürlich, oder sind sie regelhaft?

Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen langen und kurzen Vokalen. Lange Vokale des Mittelhochdeutschen (ca. 1050 – ca. 1400) werden durch Zirkumflex (^) gekennzeichnet, d. h., â ist lang zu sprechen wie in fahl, a hingegen kurz wie in Fall.

Es hieß um 1200 z. B. hase, name, ware (a kurz!) und strâze, strâle, mâl, râten (a lang). Im Niederhessischen und anderen Dialekten wurde später das â zu langem å, also zu dem zwischen a und o liegenden Laut, z.B. strâle > strål, brâten > bråten. In der Zeit um 1400 tauchen in nordhessischen Quellen für diesen neuen Vokal o-Schreibungen auf. Aus Tradition wurde die a-Schreibung aber meist beibehalten.

Zuvor schon, wohl im 13. Jh., war kurzes a im Silbenauslaut zu langem a geworden, d. h., die jetzige hochdeutsche Aussprache von Ha-se, Na-me, Wa-re hatte sich gebildet. Als dies geschah, muß aber das alte â schon eine leichte å-Färbung bekommen haben, andernfalls wären beide Laute zusammengefallen und hätten sich identisch fortentwickelt.

Das Kasselänsche ist ganz offenkundig bei dem spätmittelalterlichen Lautstand geblieben, hat also wie damals z.B. Hase, Ware und Stråße, Stråhl.

In großen Teilen Niederhessens entwickelte sich jedoch das neue lange a – etwa in der Zeit um 1500 – weiter zu å: hase > håse, name > nåme(n), ware > wåre. Der Unterschied zu älterem å wurde gleichwohl gewahrt, denn dies entwickelte sich gleichzeitig weiter zu geschlossenem o, also: stråße > stroße, strål > strol, råthus > rothus.

Was ist aber nun mit der „ahlen Wurscht“, wo doch alle ein klares langes a sprechen? In alt folgen dem a zwei Konsonanten. Das a steht nicht im Silbenauslaut, kann aber auch nicht – falls dekliniert – in den Silbenauslaut treten: al-ter, al-ten, al-te. Somit unterblieb die oben beschriebene Vokaldehnung des 13. Jh.: Das a blieb kurz (wie z. B. auch in rast, ras-ten, wal-ze, has-pel) und bewahrte damit auch seine reine a-Qualität.

Hinzu kommt nun ein weiterer Lautwandel: Wenn im Niederhessischen der Kombination „kurzes a + lt (oder ld)“ noch ein Vokal folgte, wurde das t (oder d) ausgestoßen, wobei das vorhergehende a gedehnt wurde, also: der Wald, aber im Wahlehalt, aber hahlenalt, aber die ahle (z.B. Wurscht). Dieser Wandel ist später eingetreten als die oben beschriebenen Veränderungen, andernfalls wäre dies a ja ebenfalls zu å oder gar zu o geworden und wir hätten heutzutage keine ahle Wurscht, sondern åhle oder ohle Wurscht. Die historischen Formen des Ortsnamens Wahlershausen zeigen, daß dieser Lautwandel ins 16. Jh. zu datieren ist: 1539 heißt es noch Waltershausen, in den Belegen seit 1583 kommt kein t mehr vor.


Aus: Der Mundart-Kurier – Mitteilungen der Gesellschaft für Nordhessische Mundarten, Nr. 4, 2005, S. 14.


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