Kasseläner Windbiedel

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Von Heinrich Keim

Heinrich Keim


Vom „komischen Charakter“ der Kasseläner

„Fast jedes Land hat seinen stehenden komischen Charakter, in welchem die eigene Nationalität mit keckem Humor persifliert ist, und fast stets wird dieser Charakter nach dem Lieblingsgericht des Volkes benannt. Der Jack Pudding der Engländer, der Jean Potage der Franzosen, der Pickelhäring der Holländer, der Makkaroni der Italiener legen hiervon Zeugnis ab.“mSo führte das „Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk“ im Jahre 1838 aus. Die Kasseläner nutzten diesen Brauch. „Schambedaasch“ nannten sie „ihre“ Franzosen, als Kassel Hauptstadt des Königreiches Westfalen war und der „Scherohm“ als König dort residierte. Andere wandten diesen Brauch auf die Bewohner Kassels selbst an. Sie gaben ihnen den Spitznamen „Kasseläner Windbiedel“ und wollten so wohl jene Eigenschaft hervorheben, durch die sich die Kasseläner von den Landbewohnern unterschieden und mit denen sie ihnen besonders auffielen.

Kasseläner Windbiedel oder Mündener Aufläufer?

Wie die Kasseläner zu ihrem Spitznamen kamen, liegt im Dunkel verborgen. Ein Mündener Heimatforscher berichtet von einem Bäckermeister Christian Voigt aus Camburg/Saale, der im Siebenjährigen Krieg als sächsisch-gothaischer Soldat nach Münden kam, dort abmusterte und heiratete. In seiner Bäckerei in der Lohstraße stellte er „Aufläufer“ her, deren Rezept er in seiner Heimat oder als wandernder Geselle erlernt hatte. Mündener Aufläufer wurden auch nach Kassel verkauft und dort als Windbeutel bezeichnet.

Gebäcke aus Brandteig wie der Windbeutel sind schon sehr alt. Der kurmainzische Hofkoch Marx Rumpolt beschreibt (1581) braune runde Kuchen von eyngebrenntem Teig. Auch in der Kasseler Hofküche bereitet man damals u. a. Brandgebackenes mit klein rosin. Im „Unterricht für ein junges Frauenzimmer“ wird (1785) Brandteig beschrieben, Hohlkuchen zu machen. Einen hohlen Kuchen Windbeutel zu nennen, liegt nahe. Allen diesen Gebäcken ist gemeinsam, daß sie in heißem Fett gebacken werden. Der Mündener Aufläufer und der Kasseläner Windbeutel entstanden sicher auf der Grundlage jener Rezepte, als es gelang, Backöfen mit hohem Wirkungsgrad zu bauen. Das Füllen von Gebackenem war schon seit der Renaissance in Hofküchen üblich. Nach dem „Unterricht für ein junges Frauenzimmer“ erhält Spanischer Wind eine Füllung, zu der Buttersahne, feingesiebter Zuker und das Gelbe von einer Citrone mit einem Schneebesen steif geschlagen werden.

Eine andere Frage ist, wie der Name für ein Gebäck auf die Bewohner Kassels übertragen wurde. Im Jahre 1772 bezeichnete der Professor R. E. Raspe den von Voltaire an den Kasseler Hof empfohlenen Franzosen Mallet als französischen Windbeutel. Auch den französischen Marquis und Kasseler Bibliotheksdirektor de Luchet, der angeblich nie ein Buch gelesen habe, nennt er Windbeutel von einem Franzosen. Wie die Kasseläner ihre französischen Mitbürger, so bezeichneten die Landbewohner ihre städtischen Nachbarn. Wir haben es mit einem in der Geschichte oft beobachteten Phänomen zu tun. Der in seiner Lebensart Konservative bezeichnet den in Mode, Sitten und Gebräuchen Fortschrittlicheren als leichtsinnig, als Aufschneider, als Luftikus und Windbeutel.

Früher spazierten die Kasseläner sonntags offs Land – in die heutigen Vororte.

Dort sollen sie mit dem Stolz und dem Hochmut des Residenzstädters gegenüber dem Landbewohner aufgetreten sein. Dem erschienen sie jedenfalls recht aufgeblasen – wie „Windbiedel“. Das muß doppelt aufgefallen sein. Die Kasseläner trugen nämlich an ihren Gürteln gestrickte Geldbeutel – „Ziehbiedel“ genannt –, durch die der Wind pfiff. Der „Ziehbiedel“ war meist ziemlich leer und Geld knapp bei Kassels Bürgern.

Die „Kasseläner Windbiedel“ mag trösten: Das Gebäck, mit dem sie ihren Namen teilen müssen, erscheint zwar recht leicht, luftig und aufgeblasen, doch es besitzt eine wohlschmeckende und wertvolle Füllung.

Kassels Konditoren ließen vor wenigen Jahren Berufsstolz und spitze Anspielungen nicht ruhen. Sie sannen nach, wie sie den Ruf des Windbiedels noch verbessern könnten. Sie entwickelten im Jahre 1977 einen Standard für „Kasseläner Windbiedel nach Kondider Ard“ und führten ihn in einem Probelauf sachverständigen Gästen vor. Deren einer meditierte – das Gebäck beschreibend – laut: „Was ist heute das typisch Kasselänerische am Windbiedel? Die Hülle: Brandteig? Das Gebäck: großes Volumen bei geringer Masse? Der Inhalt: gehaltvoll und im Kern etwas rot? Sicher sind mögliche Übereinstimmungen mit der Kasseler Tagespolitik rein zufällig und völlig unbeabsichtigt.“

Während der Feier „75 Jahre Konditorinnung Nordhessen“ im April 1977 stellten die Kasseler Konditoren ihre neue „Kreation“ vor – auch im Fernsehen – und verteilten mehrere hundert Windbiedel kostenlos auf Kassels Straßen.

Quelle

  • Keim, Heinrich: Kasseläner Windbiedel. In: Der Mundart-Kurier 17, 2009, S. 14. – Ebd. als Auszug aus: Heinrich Keim: Nordhessisches Küchenbrevier – Geschichten und Rezepte von Schleckfressern, Windbiedeln und Weckewerksbären. Gudensberg 1986. S. 109 ff.

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