Jacob Grimms Gleichnisübertragungen in Kasseler Mundart 1816

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Jacob Grimm (1785 – 1863) hat 1816 die bliblischen Gleichnisse Vom Sämann und Vom verlorenenen Sohn in die Kasseler Mundart übertragen.

Die Sprachen der Germanen in ihren sämmtlichen Mundarten. Von Johann Gottlieb Radlof.


Inhaltsverzeichnis

Radlofs Erfassung der deutschen Dialekte und Jacob Grimm

Der Sprachforscher Johann Gottlieb Radlof wandte sich am 9. Juni 1816 „an Jacob Grimm und bat diesen um Mitarbeit an einem ‚Sprachatlas’, Radlof plante, in möglichst vielen deutschen Landschaften die aus der Bibel entnommenen Gleichnisse ‚Vom Sämann’ (Markus IV, 3,8) und ‚Vom verlorenen Sohn’ (Lucas XIV, 11-32) in die jeweilige Mundart übertragen zu lassen und so in anschaulicher Form die Verschiedenheit der deutschen Dialekte zu demonstrieren. Jacob Grimm ging auf den ihm unterbreiteten Vorschlag ein und lieferte insgesamt zwölf Beiträge, darunter auch die Übertragung der Gleichnisse in die Mundart der Stadt Kassel. Radlofs Sammelwerk erschien offiziell schließlich 1817.“[1]

Grimms Gleichnisübertragungen (gekürzt)

Das Gleichnis vom Sämann[2]

Hehrt zu, [...] es gink en Sehmann us ze sehen. Un es begab sich, wie hä (he) sehte, fiel etliches uf den Wäk; do kamen de Väggel unner dem Himmel und frassens uf. Etliches fiel in das Stinnige, woh’s nit väle (vele) Äre hatte [...]. Do nu de Sunne ufgink, verwälkte’s, un well’s kinne Worzel hatte verdorrtes. Un etliches fiel unner de Dornen, un de Dornen wucksen in de Heh un erstickten’s, un es brachte kinne Frucht. Un etliches fiel uf en gutes Land un brachte Frucht, die do zunahm un wuchs; un menches truk drissigfällig, un menches sechzigfällig, un menches hunnertfällig.


Das Gleichnis vom verlorenen Sohn

Un hä (he) sproch (sahte): En Mensch hatte zwey Sähne (Sehne); un der jinkste unneren sproch zum Vatter: gäb me Vatter, den Theil (Thell) der Giter der mä gehört. Un hä thelte enn das Gut. Un nit lange dernoh sammelte der jinkste Sohn alles zesammen, un zog wit ewwer Land, un do brachte hä sin Gut emme mit Prassen. Do hä nu all das Sinne verzehret hatte, do kam ’ne große Diering dorchs ganze Land; un hä fink (funk) an ze darwen. [...] Do gink hä in sich un sproch: wie väle Tagelehner hot min Vatter, die Brod de Felle ham, un ich verderbe im (vor) Hunger. Ich well uffpacken un zu minnem Vatter gehn, un zu äm sahn: Vatter, ich honn gesinnigt im Himmel un vor dä; un benn nu nit meh werth, daß ich din Sohn heiße; mach mich wie einen dinner Tagelehner. Un hä machte sich uff (packte uff) un kam zu sinem Vatter. [...] Awer der Vatter sproch zu sinnen Knechten; brenget das beste Kleid (Klidd) herrvor un thut en an, un gebt em en Renk an sinne Hand, un Schuh an sinne Fise. [...] Dann desser min Sohn war dot, un es wedder läwennig worn; hä war verloren, un es gefunnen worn. Un fingen (fungen) an frehlich ze sinn [...].

Der Wert von Grimms Texten

„Speziell für die Erforschung der Mundart der Stadt Kassel stellen die Gleichnisübersetzungen wichtiges sprachliches Vergleichsmaterial dar, mit dessen Hilfe man Aussagen über den Wandel der Kasseler (Stadt)Mundart treffen kann und die die Basis für historische, so genannte diachrone Untersuchungen sein könnte.“ [3] „In seinen kurzen Kommentaren zu den Übersetzungen bietet Jacob Grimm noch zusätzliche hochinteressante sprachliche Informationen. So weist er zum Beispiel darauf hin, daß ,in den nächsten Dörfern' von Kassel sich sprachlich einiges von dem ändert, was er für die Stadt selbst in seinen Übertragungen festgehalten hat. Beispielsweise: unner in unger ‚unter‘, well in wäll ‚will‘, es in äs [„ist“][4], hunnert in hungert ‚einhundert‘ und dorch in därch ‚durch‘.“[5]

Analyse

Beide Gleichnistexte sind nicht frei von Fehlern. Unsicher muß bleiben, zu wessen Lasten diese jeweils gehen. Einige sind Grimm zuzuschreiben, der ja von Haus aus kein authentischer Dialektsprecher war, andere der Redaktion Radlofs[6] bzw. dem Drucker seines Buches.

A. Gleichnis vom Sämann: 1) gink „ging“ ist hochdeutsch, dialektgemäß wäre gunk (gink bzw. ginge dialektal allerdings beim Konjunktiv II, entrundet aus *günge). – 2) Sehmann, sehen „Sämann, säen“: korrekte Wiedergabe mit sprachhistorisch richtigem geschlossenem e. – 3) sehte: Aussprache ist sehde. Grimm setzt d und t fast immer wie im Hochdeutschen; er überläßt die Aussprache dem Leser.[7] – 4) Wäk „Weg“: Grimm hat hier die sog. Auslautverhärtung g > k kenntlich gemacht (die im Mittelalter auch in der Schreibung erfaßt wurde, z. B. mittelhochdeutsch der wec, des weges). Im 19. Jh. wurde im Kasselänschen Wäk zu Wäch; die spirantische Aussprache ist aus dem Inlaut (des Wäches, die Wäche) in den Auslaut übertragen worden (Paradigmenausgleich). – 5) Väggel „Vögel“, lies: Vächel bzw. Väjjel (die spirantische Aussprache des in- und auslautenden g überläßt Grimm – wie auch viele spätere Mundartautoren – dem Leser). – 6) frassens, graphisch besser wäre: fraßen’s. – 7) das Stinnige: falsch, unmögliche Form: es muß – wie hochdeutsch – das Steinige heißen. – 8) well’s „weil’s“, nicht korrekt, richtig müßte es heißen: will’s (mit geschlossenem i); offensichtlich Verwechslung mit () well’s „(er) will’s“ (mit überoffener i-Aussprache, die vielfach von Mundartautoren mit geschlossen zu sprechendem e wiedergegeben wird). – 9) kinn „kein“ (mit offenem i), Kürzungsprodukt, Nebenform von regulärem kein in unbetonter Stellung.[8] – 10) truk „trug“ (Auslautverhärtung g > k), im 19. Jh. Entwicklung zu truch/druch (s. o. Wäk > Wäch). – 11) drissigfällig „dreißigfältig“. Im 19. Jh. Angleichung der Zahlwörter ans Hochdeutsche (möglicherweise bedingt durch überregionalen Waren- und Geldverkehr), also dreißich und nein (entrundet aus hochdeutsch neun) statt *ninn, so auch neinzich statt *ninnzich (hat sich im Umland von Kassel erhalten). Aussprache der beiden g in drissigfällig ist offenbar bereits spirantisch, also ch (vermutlich frühe Schwächung wegen Stellung in unbetonter Nebensilbe).

B. Gleichnis vom verlorenen Sohn: 1) Sähne „Söhne“ nicht richtig; entrundetes Söhne ergibt allein Sehne. – 2) unneren < unner enn „unter ihnen“. – 3) Vatter vielfach im Niederhessischen; im Kasseler Stadtdialekt traditionell zumeist Vader (aber auch auf dem Land z. T. mit Länge: Voder). – 4) Theill mit Aussprache Deil ist richtig (Thell abwegig, s. u.). – 5) Giter „Güter“. – 6) gehört ist hochdeutsch; vermutlich hatte Grimm die alte Form gehort im Manuskript (ö vermutlich Satzfehler).[9] – 7) thelte kaum richtig, müßte deilde lauten (in Grimms Schreibweise: theilte).[10] – 8) Diering „Teuerung“, sicherlich Satzfehler; Grimm dürfte Dierung geschrieben haben (genauer wäre Dierunge[11]). – 9) fink „fing“ ist hochdeutsch, funk hingegen mundartlich richtig (fink kommt zwar vor, aber als Konjunktiv II, Endrundungsform: fink < *fünk, *fünge). – 10) gink „ging“, richtig: gunk (ist wie fink zu beurteilen). – 11) Felle (mit geschlossenem Stamm-e) „Fülle“. – 12) ham „haben“, muß honn heißen, sicherlich Satzfehler.[12] – 13) meh ist ländlich, kasselänisch: mehr (es ist allerdings nicht ganz auszuschließen, daß um 1800 die Form meh auch für Kassel gegolten haben könnte). – 14) Renk „Ring“ möglicherweise hochdeutsch-mundartliche Mischform, die alte Form für „Ring“ ist Rinken (Renken). Stamm ring- in ringsrimme „ringsherum" belegt. – 15) Klidd statt Kleid ist eine ganz und gar unmögliche Form.[13] – 16) fingen ist hochdeutsch, fungen mundartlich korrekt ( s. o. fink, funk).

Analyse erstellt für KasselWiki von Werner Guth 2012.

Quellen

  • Arend, Stefan: Das älteste Stück Kasseler Mundart?! Die Gleichnisübersetzungen von Jacob Grimm aus dem Jahre 1816 „feiern jetzt den 190. Geburtstag“. In: Der Mundart-Kurier 7, 2006, S. 1 f. - Gekürzte Fassung von Arends Aufsatz von 1992; enthält zusätzlich die Abbildung der Titelseite von Radlofs Die Sprachen der Germanen.
  • Radlof, [Johann Gottlieb]: Die Sprachen der Germanen in ihren sämmtlichen Mundarten. Dargestellt und erläutert durch die Gleichniss-Reden vom Säemann und dem verlorenen Sohne samt einer kurzen Geschichte des Namens der Teutschen. Frankfurt am Main 1817.

Querverweise

Netzverweise

Anmerkungen

  1. Arend 2006, S. 1.
  2. Beide Gleichnisübertragungen – mit Kürzungen – zitiert nach nach Arend 2006, S. 2.
  3. Arend 2006, S. 1.
  4. Korrigiert aus „es“. Hier hat entweder Radlof „mitgedacht“ und eigenmächtig einen Texteingriff vorgenommen, oder es handelt sich um ein schlichtes Versehen beim Satz des Textes. Der auffällige Ausspracheunterschied, der auch heute noch existiert, besteht nicht bei dem Personalpronomen es (das überall wie hochdeutsch ausgesprochen wird), sondern bei den Dialektformen von „ist“, nämlich is/es in Kassel (und etlichen Nachbardörfern) einerseits und äs (mit offener Aussprache des e) weithin in der Umgebung Kassels und dem Niederhessischen generell. Hier macht sich die sog. niederhessische Senkung bemerkbar (wie auch in den von Grimm noch genannten Wörtern wäll und därch (letzteres – ohne Parallele in der Kasseler Mundart – geht auf die entrundete Umlautform *dürch zurück). - (Guth.)
  5. Arend 2006, S. 2.
  6. .„Nach der Veröffentlichung des Bandes hat Jacob Grimm einige Kritik an der wissenschaftlichen Arbeitsweise Radlofs geübt. So ist ein Brief erhalten, in dem Grimm […] dem Werk Radlofs allgemein ‚große Mängel‘ attestiert.“ (Arend 1992, S. 1 f.)
  7. Im Niederhessischen, wozu das Kasselänsche gehört, sind p, t, k und b, d, g im Wortinneren zusammengefallen und erscheinen als b, d, g (Binnendeutsche Konsonantenschwächung). Umgekehrt erscheinen p, t, k und b, d, g im Auslaut (am Wortende) als p, t, k (Auslautverhärtung, im Deutschen flächendeckend seit etwa dem 12. Jh.; g > k hat sich meist zu ch weiterentwickelt.) Im Anlaut bleibt die Unterscheidung zwischen b, g und p, k (diese mit deutlicher Aspiration), anlautendes t hingegen ist bereits im Spätmittelalter zu d geworden, d. h. eine Unterscheidung von d und t am Wortbeginn gibt es nicht.
  8. Vgl. etwa keimo < *keinmol „keinmal“ gegenüber kimmensche < kinn Mensche „kein Mensch, niemand“ (Betonung auf dem Erst- bzw. Zweitglied).
  9. Jüngeres (heutiges) geheert ist vermutlich kein entrundetes hochdeutsches gehört, sondern ist analog zum Präsensstamm heer-en neugebildet worden.
  10. Es gibt einen niederhessischen Mundartbereich südlich von Kassel, in dem mittelhochdeutsches ei nicht zu ai (Aussprache), sondern zu langem e geworden ist, z. B. Meester, kleen, Been, Deel, Kleed. Vielleicht hat sich Grimm an einem solchen Sprecher orientiert.
  11. Auffällig ist der mundartlich korrekte d-Anlaut, den Grimm sonst vermeidet; vgl. aber weiter unten: dot.
  12. Wohl verlesen bzw. „uminterpretiert“ aus Grimms handschriftlichem Manuskript: -onn > -am (Schaft des ersten n zu o gezogen ergab die Buchstabenfolge a + m).
  13. Ob Grimm dem dialektal richtigen Kleid mißtraut hat, dies als hochdeutsch ansah und so möglicherweise eine falsche Dialektform „rekonstruiert“ hat analog zu Zitt „Zeit“?
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