Jüdische Sprachelemente in Marktsprache und Mundart in Niederhessen

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Von Heinrich Keim


Karikatur von Joh. M. Voltz, Kupferstichkabinett München, aus Sessa, Unser Verkehr, 1814 (hieraus auch die folgenden Karikaturen).
Der Schächter wurde mit Geflügel unter dem Arm dargestellt. Nach Hilgers (Das Fleisch- und Metzgergewerbe mit allen seinen Nebenzweigen auf der Stufe jetziger Vervollkommnung, Leipzig 1893) musst er während er Prüfung zwei Hühner und einen Hahn „in Gegenwart des Rabbiners und seines Lehrmeisters“ schächten.
Aus: Henke, Kracht, Tollmann, Der Metzger, Wittenberg 1927

Das Jiddische ist (nach Landmann) kein Jargon, sondern eine „vollwertige, bezaubernde Kultursprache“ mit reicher Literatur. Es galt als die Sprache der Juden in Deutschland und in Osteuropa seit dem Mittelalter: „Wortschatz weitgehend mittelalterliches Deutsch, harmonisch ergänzt mit hebräischen und slawischen Elementen.“ (vgl. Lit. 11) Viele seiner Wörter, Ausdrücke und Redensarten haben Eingang gefunden in die niederhessische Mundart, in die „Sprache des Marktes“, des Viehhandels und der Metzger. Sie wurden – mehr oder weniger stark – assimiliert. Der – früher – hohe Anteil jiddischer Ausdrücke an der Sprache der Viehhändler und Metzger ergibt sich historisch aus der Lage der Juden in Deutschland allgemein und in Niederhessen im besonderen. Als Händler waren sie für die Landbevölkerung unentbehrlich. A. Cohn führt richtig aus: „Abgesehen davon, daß die armen Bauern stets Geld benötigten, sah die vorwiegend Ackerbau treibende Bevölkerung in den Juden häufig die Mittler, die für sie den Verkauf der Rohprodukte ... besorgten und ihnen andererseits die Fertigwaren ... direkt ins Haus brachten“ (3). So befürworteten Bürgermeister und Rat von Hofgeismar im Jahre 1673 die Schutzerteilung an Jacob Benjamin aus Wolfhagen u. a. deshalb, weil „sein Handel mit Eisenwaren und Gußwerk im Interesse der Bürgerschaft zu fördern wäre“ (3). In den Jahren 1681, 1690 und 1693 erhielten Juden die Konzession, Gewandschnitt zu betreiben, den Handel mit wollenen Tuchen im Werte von einem halben bis zu einem ganzen Kammergulden, weil eine einschlägige Gilde nicht vorhanden war. Ähnliche Eingaben, Stellungnahmen und Konzessionen sind auch für andere niederhessische Ortschaften bekannt, etwa für Gudensberg aus den Jahren 1693 und 1734. Als in Marburg 1718 ähnliches beantragt wurde, sprachen sich mehrere Zünfte wie Bäcker, Schmiede, Schlosser und Wollenweber dafür aus. Dagegen stimmten bezeichnenderweise Berufe wie Metzger und Lohgerber, die mit Juden – wenn auch auf anderen Gebieten – konkurrierten.

Viele Juden trieben Viehhandel. Sie durften auch schächten, d. h. nach den rituellen Vorschriften ihrer Religion schlachten. Bis zur Aufhebung der niederhessischen Judenordnung von 1749 (im Jahre 1853) allerdings ein mehrerß nicht, ... alß was sie zu ihrer Haushaltung vonnöthen. ... Hinter Vier Theil unnd was ihnen mißlinngt durften sie – unter bestimmten Auflagen – verkaufen (HLO u. 2). Der sich aus dieser Genehmigung entwickelnde, oft recht geringe Fleischhandel, der vor allem die Hinterviertel von Rindvieh mit ihren Vorzugsstücken betraf[1], führte durch die Jahrhunderte zu ständigen Streitereien mit den zünftigen Metzgern[2]. Der „Handthierungsanschlag der Stadt Hofgeismar“ für 1780 macht das punktuell deutlich. Seine Verfasser erklären nämlich, daß der gröste Teil hiesiger aus 23 Familien bestehenden Juden alles schwehre und leicht Vieh schlachten und daß sie ... das Fleisch nicht nur en gros, sondern auch Pfundweiß, mithin gegen alle Verordnung in hiesiger Stadt ... als auch beym Gesundbrunnen auf die benachbarten Dorfschaften debittirn. Daher wird den Metzgern dadurch die Nahrung sehr entzogen (14). Hofgeismar hatte damals nach der „Handthierungsakte“ mehr Juden, die auch schlachteten (zehn), als christliche Metzger (neun). Die nahmen 1823 und 1830 erstmals jüdische Metzger in ihre Zunft auf. Doch galten die einschränkenden Bestimmungen der Judenordnung von 1749 auch für sie weiterhin (2).

Besonders im Viehhandel wollte man trotz einschränkender Reglementierungen nicht auf die Tätigkeit der Juden verzichten. So verlegte man beispielsweise im April 1830 im Amte Marburg Viehmärkte auf andere Wochentage, weil sie sonst auf einen jüdischen Feiertag gefallen wären. Ein Gutachten aus jener Zeit urteilt: „Ein Markt an einem Tag, wo die Juden Feiertag haben, ist nicht wert.“ Ähnliches besagt auch die gutachtliche Feststellung: „Der Jude ist die Seele des Viehhandels“ (8).

In der Phase enger wirtschaftlicher Beziehungen und Abhängigkeiten der Sozialgruppen der Juden und der Christen gingen zahlreiche Ausdrücke aus dem Jiddischen in die Handelssprache und in die niederhessische Mundart über. Einige sollen im Folgenden erläutert werden[3]:

Achielen, achelen (acheln): essen, gierig oder mit großem Appetit essen. „Acheln hat der christliche hessische Metzger ... (auf dem Kasseler Viehhof) in ‚spachteln‘ verballhornt“, meint Dalberg 1931 (4).

Awerähmchen, Abrähmchen (Abraham): kleines, spitzes Küchenmesser, Kartoffelschälmesser. Das Messer erhielt diesen Namen im Volksmund angeblich, weil es früher als „Billigartikel“ von Juden im Hausierhandel vertrieben wurde. Die Händler benannte man mit dem Spitznamen Abraham oder Abrahämchen zum Unterschied vom Jahrmarktsverkäufer, der als „billiger Jakob“ bezeichnet wurde und sich oft auch selbst so nannte.

Jude, Pferdehändler.jpg
Jude, Viehhändler 1814.jpg

Beschummeln (beschommeleh): betrügen, jemanden täuschen.

Betucht (betuach): wohlhabend, vermögend.

Dalles (dallus, dalluth): Armut, Not. Häh hodden Dalles. Vorne nix on hingen nix. Er ist bettelam. Es lohnt nicht, mit ihm ein Geschäft zu machen. Dähn holld der Dalles. Er macht bankrott. Auch: Er ist sterbenskrank. Alles Broch on Dalles. Die Redensart sollte deutlich machen, daß alle Gegenstände eines Haushalts, eines Betriebes oder eines Geschäfts funktionsunfähig, zerbrochen oder brüchig waren.

Eigeln (egel = Kalb): kalben.

Gannoff, Ganeff (ganov, ganab): Dieb, Gauner, unehrlicher Mensch. Das Schimpfwort wurde in Verbindung mit dem Beiwort scheen (für schön) auch plump vertraulich gebraucht.

Gampfen, gannfen: mundartliche Ableitung aus ganneffen für stehlen.

Geseire (gesejre, geseira): Verhängnis, Gejammer. Geschäfd is Geschäfd. Doh hilfd kinn Geseire nid. Das Geschäft ist abgeschlossen. Da hilft kein nachträgliches Jammern (über einen ungünstigen Abschluß).

Idzich (Jizchak, Itzig): Isaak. Als Schimpfwort gebraucht, bezeichnet der biblische Name einen hartnäckigen, aufdringlichen, unerwünschten Menschen schlechthin, besonders aber auch jüdische Händler. Schmissen vorne russ, der Idzich kimmed hinnen werre rin. Wenn er durch die Vordertür aus dem Haus gewiesen wird, betritt er es durch die Hintertür erneut.

Jidde, Jirre, Jüd, Chud: Jude. Dalberg führt dazu in 1931 aus: „Nur der christliche Händler spricht den jüdischen als ‚baljisroel‘ an, sonst heißt er in der dritten Person in der Kasseler Mundart ‚Jidde‘, im Diemelgebiet ‚Chude‘ und auf dem Lande in Niederhessen ‚Jirre‘, weiter südlich ‚Jüd‘, dies ist alles ohne jeglichen bösen Beigeschmack.“ Wenn das überhaupt so zutraf, dann änderte sich das nach 1933 sehr schnell (4).

Mit der Wortverbindung Schdingejidde war ursprünglich der jüdische Viehhändler gemeint. Sie betonte den Viehhändlern oft anhaftenden Geruch nach Stall und Vieh. Der Ausdruck wurde gelegentlich auch auf christliche Händler angewendet, wenn sie als besonders geschäftstüchtig und „gerissen“ galten. Auf diese Weise stellte man ihre Geschäftstüchtigkeit mit der ihrer jüdischen Konkurrenten gleich. Im Alltag wurde aus der Wortverbindung durch Verdrehung ihrer Bestandteile zu Jiddenschdinger ein diffamierendes Schimpfwort für Jude schlechthin.

Bevorzugte ein Bauer einen bestimmten Viehhändler als Handelspartner, dann hieß der oft sin Libbjidde (sein Leibjude).

Als en ahlen Hunnejidde bezeichnete man eine Sache mit geringem Wert. In herabsetzender Weise war wohl gemeint: Die Sache ist nicht mehr wert als ein jüdischer Händler, der auf seine alten Tage noch mit dem Hundekarren trödeln muß (4).

Katzoff, Katzoove (kazzov): Metzger. Zünftige Metzgergesellen auf Wanderschaft begrüßten sich noch im vorigen Jahrhundert mit dem fragenden Zuruf: Katzoff? Der so Angerufene antwortete mit: Ken! für Ja! Die Grußformel diente als Legitimation, an der ein Fremder als Berufskollege erkannt wurde.

Das Beispiel zeigt, daß Ausdrücke aus dem Jiddischen lange auch von christlichen Metzgern als „Geheimsprache der Eingeweihten“ benutzt wurden. Es bestätigt außerdem, daß der jüdische Einfluß gerade im Handel mit Vieh besonders groß war. Das wurde nicht immer nur als negativ empfunden. Die Metzgergesellen hätten sich wohl kaum der Sprache einer für sie verachtenswerten Sozialgruppe bedient. Vielleicht schwang bei den Gesellen, die ja die Konkurrenz jüdischer Viehhändler weniger stark erlebten als ihre selbständigen, direkt beim Bauern einkaufenden Meister, ein Stück versteckter Hochachtung mit vor dem Geschick der andersgläubigen Berufsverwandten. Jedenfalls enthielten die zünftigen Grußformeln immer auch ein Stück identifizierendes Selbstbewußtsein. So begrüßten sich die Bäckergesellen auf der Walz mit dem Zuruf: Hui Schütz! Die selbstbewußte Antwort lautet: Löwenschütz! und spielte auf die beiden Löwen im Bäckerwappen an.

Kappore, Vizekappore (kapparah): von Sühneopfer abgeleitet für tot. Erschd pleite, dann macholle, nu vizekappore. Redensart, die eine Steigerung ausdrückt: Pleite (pletha = Rettung, Flucht) ist ein Konkurs, der einen Ausweg offenläßt. Gilt ein Händler als macholle, dann bleibt für seine Gläubiger nichts übrig. Ist er vizekappore, dann gilt er geschäftlich als so gut wie tot.

Die Abbildung läßt erkennen, daß – offenbar schon früh (1814) – aus dem häufig vorkommenden jüdischen Namen Abraham die Berufsbezeichnung Abraham für jüdische Trödler wurde, die schließlich auf den von ihnen angebotenen Attikel übertragen wurde: Abrahämchen – kleines Küchemnmesser.

Kooze(n), Großkooze(n) (kazim): Fürst, reicher Mann. Häh kemmed an wie’n Großkooze. Er tritt „großspurig“ auf. Häh schdinged wie’n Großkooze. Er „riecht“ nach Geld.

Koscher (kaschar): rein, einwandfrei (im Wortsinne auf Speisen nach den jüdischen Speisevorschriften bezogen). Das Geschäfd is mäh nidd ganz koscher. Der Handel erscheint mir nicht ganz korrekt.

Lamech, Lumich (Lamech): Narr, als Schimpfwort: verschlagener Mensch, „verrückter“ Kerl. Das Wort wurde wohl vom biblischen Lamech hergeleitet, der blind war und doch geschossen haben soll.

Lechem (lechem): Brot. Häh hodd kinn lechem iwwer Nacht nidd. Er ist so arm, daß er über Nacht kein Brot im Haus hat. Mit ihm ein Geschäft abzuschließen lohnt nicht.

Macholle (mechulleh): zahlungsunfähig. Pleite is noch lange nidd macholle. Wer momentan zahlungsunfähig ist, der findet sicher einen Ausweg aus der Notlage.

Macke, Magge (makkah): Schlag, Mangel, Fehler. Die Pohre hodd ne Magge. Die Kuh hat einen Mangel. Diese Feststellung war im Viehhandel wichtig, weil der Verkäufer laut Kaiserlicher Verordnung vom 27. März 1899 abweichend vom Bürgerlichen Gesetzbuch nur für bestimmte Gewährsmängel haften mußte (9).

Makesse, Maggesse, Mackes (makkoth): Schläge. Hää krechd Mackes off de Dookes. (Nach Berthold Redensart aus Hofgeismar. Westlich von Kassel lautet sie: Häh krichd Maggesse off’n Dooges.) Er erhält Schläge auf den Hintern. Üblich war auch die Redensart: Kenner munn sich maggessen. (Gesunde) Kinder müssen sich (auch einmal) prügeln.

Maloche, malochen (melochoh): Arbeit, arbeiten. Ne Schbanne Hanneln is besser als ne Elle Malochen. Eine Handbreite Handeltreiben bringt mehr ein als eine Ellenbogenlänge Arbeiten. Handel treiben ist einträglicher als arbeiten.

Maschores: Diener, Knecht, Dummkopf. Häh machd ämme sin Maschores. Er erledigt die Schmutzarbeit für ihn. Er ist ein Handlanger. Maschores im engeren Sinne wurde auch für Metzgergesellen gebraucht.

Massel (massol): Glück, Stern. Wer Massel hodd, dähme kallwedd dr Osse. Im Glück ist Unmögliches möglich. Schwadds du von dähme sin Massel. Die Redensart bedeutet im positiven Sinne: Mehr Glück als Verstand haben[4]. Im negativen Sinne kann sie bedeuten, daß dem vermeintlichen Glück vermutlich „nachgeholfen“ wurde, etwa im Sinne des französischen corriger la fortune. So wurde auch das Verb masseln gebraucht.

Massemadden (massa umattan): wörtlich: Nehmen und Geben = Handel, Geschäft. Was machen de Massemadden? Wie gehen die Geschäfte? Häh is en Massemaddenmassler. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, dessen Praktiken nicht immer ganz durchschaubar sind. Auch: Er handelt mit allem, was für ihn erreichbar ist.

Das Wort Massemadden wurde im übertragenen Sinne auch für gebärdenreiche Handlungen gebraucht. So erzählt Gustav Wentzell vom alten Meier Bär Mond, der um die Jahrhundertwende in Kassel mit Manufakturwaren handelte. „Eines Tages betritt ein eleganter Herr, der vor zwanzig Jahren als Lehrling in dem Mondschen Geschäft tätig war, den Laden, um seinen Lehrprinzipal zu begrüßen. Kurz darauf geht er andächtigen Antlitzes an den vollgepfropften Regalen vorüber, indem er in auffälliger Weise wie zum Gruß seinen Zylinderhut lüftet. ‚Nun, Herr Tulpenthal‘, sagt der alte Mond, ‚sein se meschugge, was machen se for Massematten, daß se alszu grüßen meine Ware.‘ ‚Herr Mond‘, gab der Besucher zur Antwort, ‚das Alter soll man ehren. Ich grüße alte Bekannte.‘[5]

Von unbekanntem Verfasser: Die geheime Geschäftssprache der Juden. Ein Handbuch für alle, welche mit Juden in Geschäftsverbindung stehen und der hebräischen Sprache (der sog. Marktsprache) unkundig sind (1899).

Mauscheln (maschal, mauschel): Beispiel, an Beispielen erläutern, mit den Händen reden, undurchsichtige Vereinbarungen treffen, im Viehhandel auch: übervorteilen. Wenn Jidde on Katzoff mauscheln, hodd dr Buhre Schlammassel. Wenn sich jüdischer Viehhändler und Metzger einig sind, erleidet der Bauer Schaden.

Mausedood (maus = tot): (Pleonasmus als Verstärkung) endgültig tot.

Mazzen (mazzoh): ungesäuertes Brot. Die Pohre brängged Fleisch zeh wie Mazzen. Eine alte Kuh gibt zähe Braten (zäh wie Mazzen).

Meschugge (meschuggoh): wahnsinnig, verrückt. Bin ich meschugge? (Im Viehhandel:) Rhetorische Frage als Ablehnung eines überhöhten Preises.

Mesummen: Geld. Wie schdehn de Mesummen? Kannst du bezahlen? Im Viehhandel soll die Frage auch die Möglichkeit eines Geschäftsabschlusses sondieren. Sie soll ermitteln, ob ein Stück Großvieh zum Verkauf ansteht, weil der mögliche Verkäufer Geld braucht. Ohne Mesummen keine Massematten. Ohne Bargeld kein Geschäft.

Micker, Migger (ikkor = herausreißen): das (herausgerissene) Rinderdarmfett.

Mischbohre, Mischboge (mischpocho): jüdische Familie, Familie (im Mundartlichen für Sozialgruppe mit zweifelhaftem Ruf gebraucht). Von der Mischpohre kinne Pohre. (Ich betreibe) keinen Viehhandel mit dieser Familie (weil sie als unredlich gilt).

Moos (moaus = Groschen): Geld. Ohne Moos – nix los. Ohne Bargeld keine Geschäfte (zwischen uns).

Pattersch, battersch (pattersch): trächtig. Die Pohre is battersch. Dr Katzoff giwwed kinn Poscher ze vähle. Die Kuh ist trächtig. Da zahlt der Metzger wenig.

Ponem, Bonum (ponim): Gesicht, Angesicht. Hä verwechseld Ponem mid Dooges. Er verwechselt Gesicht mit Hintern. Er ist nicht in der Lage, feine Unterschiede zu erkennen (im Viehhandel: den Schlachtwert eines Tieres richtig abzuschätzen). Er ist ein grobschlächtiger Mensch.

Pohre, Bohre (poroh): Kuh. (Im Niederhessischen wird das Wort meist im Sinne von alt, abgemagert, zähfleischig, geringwertig gebraucht.)

Poscher, Boscher (poschet): Münze von geringem Wert, Pfennig. Vär die Pohre kinn Poscher nid. Für die Kuh (gebe ich) keinen Pfennig. Die Kuh kaufe ich nicht. Värs „Gehadd“ giwwed dr Jidde kinn Poscher nid. Für vergangenen Besitz zahlt der Jude keinen Pfennig. Redensart einem Angeber gegenüber, der sich auf Besitz oder Leistungen in der Vergangenheit beruft (etwa auch im Sinne des lateinischen Hic Rhodus, hic salta).

Reiwach, Rewach (revach, räwah): Gewinn, Profit. Dr Jidde macht den Reiwach. Gemeint ist: Wenn sich Bauer und Metzger beim Direktverkauf im Viehhandel nicht einigen können, dann macht der Viehhändler den Gewinn. Die Redensart unterstellt fälschlicherweise und verallgemeinernd, daß der Viehhändler unredlich handelt und Jude ist.

Jude, reicher J. m. Tochter.jpg

Roches (roges, rouches): Ärger, Zorn. Häh hodd Roches. Er ist zornig. Er ist verärgert.

Schachern (sachrn): handeln. Der Ausdruck wird in der Wortverbindung Schacherjidde mit negativem Unterton gebraucht für jemanden, der hartnäckig um einen Preis feilscht.

Schaude (schoude): Narr, Schuft. Enn Schaude verdirwwed zehn Geschäfde. Warnung, mit einem unvernünftigen oder unzuverlässigen Menschen Geschäfte zu machen.

Schawwes (schabbos): Sabbat, Ruhetag. Vermassel minn Geschäfd. Dann krichesde eine off dinn Schawwesdeggel. Wenn du mir das Geschäft verdirbst, dann beziehst du Schläge (auf deinen Sonntagshut).

Schduss (schtut): Dummheit. Mach kinn Schduss nidd on kauf de Bohre. Warnung: Sei nicht so dumm, die Kuh zu kaufen. Das Gegenteil bedeutet der Satz: Mach kinn Schduss nidd. Kauf de Bohre. Sei nicht dumm. Kaufe die Kuh.

Schigger (schikkor): betrunken.

Schiggse (sikkuz, schegez): christliches Mädchen niederen Standes (später von Christen auch für Jüdin gebraucht). Es is ne Schiggse. Sie ist ein leichtfertiges Mädchen. Dibbelschiggse für (umherstreunende) Gaunerin, Ladenschiggse für Verkäuferin.

Schlammassel (schlimm-massol): Unglück. Doh hommäh den Schlammassel, Herr Nell: Frosd on de Riewen schdeggen noch. Jetzt haben wir das Unglück, Herr Nöll: Frost und die Rüben stecken noch (im Acker und erfrieren). Die Redensart kam gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in Teilen Niederhessens auf, als der Gutsbesitzer Nöll aus Gudensberg für den Wahlkreis Melsungen-Fritzlar Mitglied des preußischen Abgeordnetenhauses war. Die einen sagen, man habe bei ihm Rat und Hilfe gesucht und gefunden. Andere unterstellen, er habe wegen der Sitzungen des Abgeordnetenhauses in Berlin seine Pflichten als Gutsbesitzer vernachlässigt. Die Redensart wurde allgemein für Unglücksfälle angewendet. Häh schdegged bis zum Halse im Schlammassel. In der Redensart wird Schlammassel in volksetymologisch falscher Ableitung auf Schlamm bezogen.

Jude, Kommerzjude.jpg

Schmonzes (schmonze): alberne Geschichte. Dähme sin Schmus is Schmonzes. Sein dummes Gerede ist nicht ernstzunehmen.

Schmus (schemuoth): Gerede, Schmeichelei. Häh is Hannelsmann. Häh machd Schawwes-Schmus. Er ist Händler, der mit schönen Worten zu überzeugen sucht. (Gschwätz, das im Geschäftsleben zur Vorsicht mahnt.)

Schmu für Täuschung, Betrug wird ebenfalls von schemuoth hergeleitet. Mach mäh kinn Schmu nid bedeutet: „Versuche nicht, mich zu betrügen.“ In der Umgangssprache wird der Begriff auch von Schülern für Täuschungsversuche bei Klassenarbeiten angewendet.

Schoofel (safal): schlecht, gemein. Häh is schoofel. Er ist ein gemeiner Kerl (hat eine niederträchtige Gesinnung, lügt und betrügt).

Tacheles (tachlut): Ziel, Zweck. Wo Schmus nidd hilfd, mußde n Mull voll schwaddsen, on zwar Tacheles. Wo gutes Zureden nicht hilft, da mußt du deine Meinung sagen, und zwar unverblümt.

Tinneff, Dinneff (tinnuf): Schmutz, Schund. Kaufsde n Goldschdigge oder kaufsde Dinneff? Rhetorische Frage, wenn der Metzger über den Preis eines Schlachttieres (meist Großvieh) klagt. Die Wortverbindung Bowel un Dinneff verstärkt das abwertende Urteil über eine Ware.

Tooges, Dooges, Dookes (tachat = hinten): Hintern. Dooges galt als weniger vulgär als das drastischere Arsch. Das Wort wurde in Verbindung mit dem Eigenschaftswort „steif“ zu Schdiffdooges als Kennzeichnung eines körperlich unbeholfenen Menschen verwendet.

Trewwe, Drewwe (trephoh = zerrissen): verboten, unrein im Sinne der jüdischen Speisevorschriften. Die Bohre is drewwe. Die Kuh ist krank. Im weiteren Sinne auch: Das Geschäft (Viehkauf) ist unkorrekt.

Uschbes (uschpis = Wirt): unzuverlässiger Mensch. Du bisden scheener Uschbes. Du bist unzuverlässig (wie ein Wirt, dem man früher oft Unredlichkeit beim Abrechnen der Zeche unterstellte). Das Eigenschaftswort „schön“ dient hier – wie oft im Niederhessischen – als Verstärkung einer negativen Aussage.

Vermasseln: verpfuschen, zunichte machen. Dalberg führt hierzu aus: „Von ‚mossar‘ = ‚überliefert‘ wird ‚vermassern‘ = ‚verraten‘ gebildet. Von einem dummen Menschen sagt man, der ,vermassert nix‘. Von den Nichtjuden wird das Wort fälschlich mit vermasseln wiedergegeben, mit dem Begriff massel (masul = Glückstern, davon Gegensatz sche-lau massel = der ohne Glückstern, Schlamassel) verquickt und ihm so die Bedeutung verderben, versauen unterlegt, welcher Wortsinn denn auch wieder bei Juden vorkommt“(4).

Zoores (zaar = Angst): Schwierigkeiten, Zank. Mach kinn Zoores nid. Bereite keine Schwierigkeiten.

Zossen (sussim): Pferde.


Literaturhinweise:
(1) Berthold, L.: Hessen-Nassauisches Volkswörterbuch, Marburg 1927. (2) Burmeister, H.: Die jüdischen Meister der Hofgeismarer Metzgerzunft. In: Jahrbuch ’88, Landkreis Kassel. (3) Cohn, A.: Beiträge zur Geschichte der Juden in Hessen-Kassel im 17. und 18. Jahrhundert. Staat und Umwelt in ihrem Verhältnis zu den Juden, (Diss.) Marburg 1933. (4) Dalberg, J.: Volkskunde der Hessen-Kasseler Juden. In: Hallo, R.: Geschichte der Jüdischen Gemeinde Kassel, Kassel 1931. (5) Friebertshäuser, H.: Kleines hessisches Wörterbuch, München 1990. (6) Gay, R.: Geschichte der Juden in Deutschland, München 1993. (7) Grassow, A.: Wörterbuch der Kasseler Mundart, Kassel 1952. (8) Heinemann, H. (Bearb.): 900 Jahre Geschichte der Juden in Hessen, Wiesbaden 1983. (9) Henke, Kracht, Tollmann: Der Metzger, Wiesbaden 1927. (10) Herwig, A.: Kasselänisch von A bis Z, Kassel 1977. (11) Landmann, S.: Der jüdische Witz, Olten 1960. – Dies.: Bittermandel und Rosinen, München, Berlin 1984. (12) Müller, L.: Rückblicke auf Kurhessen und das Ende des Kurfürstentums, Marburg 1890. (13) NN: Die geheime Geschäftssprache der Juden. Ein Hand- und Hilfsbuch für alle, welche mit Juden in Geschäftsverbindung stehen und der hebräischen Sprache unkundig sind, Neustadt/Aisch 1899. (14) Petri, V.: Juden und andere Kontributionspflichtige in Hofgeismar um 1780. – In: Jahrbuch ’81, Landkreis Kassel. (15) Röhrich, L.: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, 3 Bde, Freiburg u. a. 1991/92. (16) Tendlau, A. M.: Sprichwörter und Redensarten deutsch-jüdischer Vorzeit, Frankfurt 1860. (17) Vilmar, A. F. C.: Idiotikon von Kurhessen, Marburg 1868. (18) De Vries, S. Ph.: Jüdische Riten und Symbole, Wiesbaden 1981. (19) Wentzell, G.: Meine tausendjährige Heimat, Kassel 1930.


Quelle

  • Keim, Heinrich: Jüdische Sprachelemente in Marktsprache und Mundart in Niederhessen. Teil 1: Der Mundart-Kurier 18, 2010, S. 12 - 14. Teil 2: Der Mundart-Kurier 19, 2010, S. 10 - 12. – Die Abhandlung wurde erstmals publiziert im Jahrbuch des Landkreises Kassel 1997, für den Wiederabdruck im Mundart-Kurier 2010 vom Autor mit Abbildungen versehen.


Querverweise


Anmerkungen

  1. Das Schlachten von Schweinen war den Juden gemäß Judenordnung verboten. Der Genuß von Schweinefleisch war ihnen aus religiösen Gründen untersagt. Daher galt ihnen der Judeneid als besonders demütigend, bei dem sie – auf einer blutigen Schweinehaut stehend – schwören mußten. In 1828 schaffte Hessen-Kassel diesen Eid als erstes deutsches Land ab (6).
  2. Die Stimmung unter vielen Metzgern in der Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt ein Bericht aus Marburg wieder. Auf einer Volksversammlung des als revolutionär bekannten Professors Bayerhoffer am 29. Mai 1848 bestieg ein Metzger die Rednertribüne und sagte: „Joa, Herr Professer, Freiheet wille mer hun, Gleichheit wille mer hun, Preßfreiheet on Censur wille mer oach hun, awwer loasse Se däi Jirre naut mie schloachte, Herr Professer“ (12).
  3.  Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Literaturangaben unter 1, 3, 4, 5, 7, 9, 10, 11, 12, 13, 15, 16, 17, 19 am Schluß des Aufsatzes, außerdem auf Kindheitserinnerungen und auf Erfahrungen in einer Fleischerlehre nach 1949.
  4. Eine Anekdote erzählt, Amschel Rothschild habe nur Lehrlinge in sein Geschäft aufgenommen, die „Massel“ hatten. Als er gefragt wurde, wie er das bei einer kurzen Vorstellung feststellen könne, da antwortete er: „Wenn mir jemand so gefällt, daß ich ihn sofort einstelle, dann hat der Massel.“
  5. Sein Sohn Dr. Ludwig Mond kam als Chemiker und Fabrikant in England zu großem Ansehen, Reichtum, Ruhm und Ehre. Er bedachte seine Vaterstadt Kassel und die dortige jüdische Gemeinde mit beträchtlichen Geldstiftungen, außerdem vermachte er der Kasseler Gemäldegalerie ein Altarbild von Lucas Cranach. Der Enkel Alfred Mond bekleidete einen Ministerposten im Kabinett von Lloyd George (19).

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