D’r Quetschenfrieder

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„D’r Quetschenfrieder“, Erzählung von Philipp Scheidemann in seinem unter dem Pseudonym Henner Piffendeckel 1910 veröffentlichten Mundartband „Casseläner Jungen“.

Casseläner Jungen


Inhaltsverzeichnis

Text


D’r Quetschenfrieder


Mä saßen vor der Unnerneistädter Kirchendhäre[1] un baaften[2] Zigaredden. „Mä“ – das waren der rote Schänkel, de Bohne, der samfte Frieder, der Heini Schäfer, der lange Karle, ich un dem Bäcker Happel sin „Ammi“. Der Ammi baafte nadierlich nit mitte. Mä hadden ämme vähle Kunschticker[3] angelernt, awer wamme[4] ämme ’ne Zigaredde vor de Schnudde hielen, dann finge[5] an ze bellen un rickete us. De Bohne war vollschtännig[6] us dem Hißchen iwwer dissen Unverschtand vom Ammi. Hä hadde schont vorgeschlahn[7], daß mä iwwerhaubt niemand mehr in unser Gesellschaft dulden sollten, der nit au Zigaredden baafen konnte.

De Bohne hadde awer kein[8] Glicke mit dem Vorschlage. Der rote Schänkel bruchte bloß de Froge ofzewerfen, wer dann ofbassen sollte, wamme dem Malkemes[9] sinne Quetschen[10] browieren wollten? un der Bohnen-Vorschlag war abgedohn.[11]

Richtig, de Quetschen! Mä hadden vor ludder Zigareddenrauchen ganz vergessen, dem Malkemes sinne Baime ze reffedieren[12]. Am Dage vorher, wie mä bim Liewenz[13] de Eierplummen[14] browiert hadden, do war extra beschlossen, daß mä heite den Malkemes mit unsem Besuch beehren wollten, weil sin Christel[15] of dem Schulwege erzählt[16] hadde, daß in ährem Gahrten[17] so firchterlich vähle Quetschen wachsen dhäten[18]. Dem Iwwerfluß sollte abgeholfen wären, so wit mä doderzu in der Lage waren.

Imme viere wurde bi den Gärtnern Kaffee gedrunken, das wußten mä. Fimf Minuten no viere waren mä an Ort un Schtelle. Der lange Karle hadde kaum[19] iwwer de Hecke gegocken[20], imme ze sehn, ob de Luft au reine war, do war der Heini au schont wie d’s Gewidder driwwer un der rote Schänkel ging mit dem Ammi an der Hecke ’nof no dem Huse zu, daß se glich Schbektakel machen konnten, wann einer kommen dhät. Dann hädde der Schänkel den Ammi gehauen, der hädde gegauzt[21] un mä hädden gewußt, was lose äs.

Textzeichnung von Ernst Brey zum „Quetschenfrieder“. -- Casseläner Jungen, S. 17.

Jo, mä. Der Karle, de Bohne, der Heini un der samfte Frieder, die schlugen als zu mit Knibbeln in de Quetschen, un wie die mä als imme den Kobb rimme flochen[22], do hon ich se nadierlich ingeschtobbet. Erscht in de Hosenkibben[23] un zwischendurch allemo eine ins Mull, dann in de Rockkibben un dann in de Mitze. Do gingen zwei Mäßerchen[24] ’nin. Des Fudder war nämlich von mä zum Rusnehmen ingerichtet. Do ging[25] also erscht’n Mäßchen in’s Fudder un’s annere in de eigentliche Betzel [26]. Das war ’ne Badentkabbe for d’s Schtreifen.[27] Wie ich wirklich nix mehr unnerbringen konnte, do drickete ich mich[28] un schbrach[29]: nu machet schnell, daß Dä au noch was kricht, eh[30] se kommen.

Do gock mich der Heini an, als wanne[31] mich fressen wollte.

„Mä au noch was krichen? Du meinst wohl, die geheerten alle Dä? Die geheeren – – –“

„Die geheeren uns alle zesammen,“ fiel ämme der sonst so samfte Frieder in’s Wort.

„Nochher[32] wird gedheilt,“ kräsch[33] de Bohne.

Doderbi sacketen se als feste wecken in. De Bohne schimbete firchterlich, weil ämme de Quetschen, die hä owen in de Hosenkibben ’ninschtobbete, unnen us den Hosenbeinen widder ruskuchelten.

Wauwau, wauwau, wauwau!!

Das war der Ammi. Nix, wie ’nus – – hobb hobb – schwabb – ’n Schibbenschdähl[34] fliegt mä an de Beine. „Lusejungen, verdammte Lusejungen!“ heerte ich den ahlen Malkemes hinner uns hergahken. Als feste wecken[35] im Galobb. Nu in de Fahrte. Dann imme de Ecke – bi Siegels in’s Hus, iwwer den Hop[36], am Holzblatze bim Becker Geißler widder nus.

Geborgen! Rangdewuh of dem Hop bim Heini Schäfer.

’n halwes Mäßchen hat[37] ich of der Flucht, die uns alle menschlich widder näher[38] gebracht hadde, verloren. De Quetschendheilunge ging friedlich von schdadden. Mä entschlossen uns, widder an de Kirchendhäre ze gehn. Do saß me vor dreißig un[39] mehr Johren nämlich recht scheene un ungeschdeert.

Ich konnte nit mehr wie fofzig Quetschen verdrahn, das wußt ich. ’n baar Dage vorher hat ich mo vierenzechzig Eierplummen bi mich gedricket. Do hat ich de ganze Nacht firchterliches Libweh gehat un minne Mudder, die von minner Leistunge keine Ahnunge nit hadde, schbrach am annern Morgen for den Dr. Stiehl, ich hädde doch’n firchterlich empfindlichen Magen, in der letzten Zidd hädde ich schont’n baar mo so’ne Art Ruhr gehadd.

Der Doktor hadde mä dann was verschriwwen[40] un ich bruchte nit in de Schule. Das baßte mä zwar[41], awer des Buchzwicken[42] hadde ich doch nit vergessen un deshalb sah[43] ich mich nu vor.

Was ich iwwer fofzig Quetschen hadde, das gab ich rus.

Der samfte Frieder schbrach kein Wort, der schbachtelte als zu Quetschen, als zu owen ’nin, als zu.

„Jetz bän ich awer voll,“ schbrach hä ofemo, „jetz finget’s[44] an, mich ze wirgen. ’s äs schade, ich hädde gerne noch’n baar bi mich gedricket.“

„Och, mußte mo orrentlich Wasser suffen,“ fiel ämme do de Bohne in’s Wort. „Dann rutschts[45] widder.“

Mä baßten nit mehr of den samften Frieder of, fingen vielmehr mit den Mäderchen an ze schbählen. Mä schenketen’en[46] Quetschen un do waren mä owen un de Jungen us der ahlen Leibziger Schtroße mußten abbatschen.[47]

Do wurden mä ofmerksam of’n Haufen Menschen, die sich in der Kirchenallee angesammelt hadden. Mä nadierlich im Galobb hänne.

Himmelgewidder nochemo, do lag der samfte Frieder un krimmete sich wie’n Wurm. Un de Menschen, die immen rimme schtannen, meinten: „der arme Junge hot de Krämpfe[48]“. Mä wußten besser, was hä hadde. Mä schlebbeten des arme Luder heim un sahten sinner Mudder, ’s[49] wär ämme schlecht geworren, hä mißte sich verhibbet[50] hon.

„Lusejungen, nixnutzige Lusejungen! Vom Verhibben riechte[51] wohl au no[52]

Zigaredden un Quetschen!? Alle Dage weren se schlechter, disse Jungen. Na wahrtet, morgen geh ich in de Schule.“

Mä dricketen uns, in der felsenfesten Iwwerzeigunge, daß dem samften Frieder sinne Mudder awer au keine Ahnunge hädde, wie einem de Schullehrer so schont des Lewen so schwer machten mit ähren dummen Rechenexembeln, die kein Mensch machen konnte, nu wollte uns die des Leben noch schwerer machen! Awer do driwwer waren mä uns einig: wann dem Frieder sinne Mudder in de Schule ging, dann sollte der Frieder forchbare Hiewe hon von uns. Der Blosenkobb hätte ofheeren kennen mit der Quetschenfresserei, wie hä fofzig im Liewe hatte. Un dann au noch Wasser ’nin ze suffen, so’n Ochse[53]. …

Dem Frieder sinne Mudder war doch vernimftiger, als wie mä erwahrtet hadden, se ging nit in de Schule. Awer der samfte Frieder hadde doch au sinne guten Lehren us der Affähre gezochen. Wie mä’n baar Dage schbeeter mo dem Jakobi sinne Quetschen browierten, do hodde bloß neinenvierzig geschnabbet[54], hä meinte: „besser äs besser.“


Quelle

  • Piffendeckel, Henner: Casseläner Jungen. Mundartliche Geschichderchen. Kassel 1910. S. 15 - 20.

Querverweise

Anmerkungen

  1. In Dhäre „Tür“ und vergleichbaren Fällen setzt Scheidemann das th der damaligen Schreibung in dh um (Thür, thäte, getheilt).
  2. baafen „knallend hinwerfen oder zuwerfen (z.B. die Tür), krachend schlagen“; beim Rauchen vielleicht Anlehnung an hochdeutsch paffen.
  3. Kunschticke „Kunststück“.
  4. wamme = wann „wenn wir“.
  5. finge = fing hä „fing er“; hier die ältere Mundartform fung durch hochdeutsch fing ersetzt.
  6. vollschtännig ist vollstännich auszusprechen. Scheidemann beläßt wie viele andere Kasseler Mundartautoren das schriftsprachliche g im In- und Auslaut und überläßt die unterschiedliche Aussprache dem Leser.
  7. schlahn „schlagen“.
  8. kein ist dialektale Normalform gegenüber der geschwächten Form kinn (eigentlich nur in unbetonter Stellung); Scheidemann bevorzugt sichtlich die Vollform.
  9. Malkemes: Familienname Malkomes.
  10. Quetschen „Zwetschen“.
  11. Stammformen: duhn – daht – gedohn (mit offenem o wie in Stroße „Straße“).
  12. reffedieren „revidieren“, hier im Sinne von „plündern“.
  13. Liewenz: Familienname Liebehenz.
  14. Eierplummen „Eierpflaumen“.
  15. Christel: nicht Mädchen-, sondern Jungenname, Koseform von Christian.
  16. erzählen ist hochdeutsch, dialektgemäßer: verzählen.
  17. Man beachte die Länge des a in Gahrten (und weiter unten z. B. in wahrten); das r ist kaum zu hören. Die merkwürdige ch-Aussprache (Gachden, Wochde, Buchg u.ä.), die bei manchen – ganz zu Unrecht – als Kasseler Dialekteigentümlichkeit gilt, ist eher ein sprachliches Merkmal von Zeitgenossen, die sich bemühen, „gutes Deutsch“ zu sprechen, das r zu ch verhärten und damit sowohl den Dialekt als auch das Hochdeutsche verfehlen. Ein in Kassel bekannter Dialektkünstler setzte bei seinen Auftritten diese – in der Tat komische – Verhunzung als humoristisches Stilmittel ein. Wer seine Freude an der ch-Artikulation des r hat, sollte sich jedoch vor Augen halten, daß das mit Dialekt wenig zu tun hat.
  18. dhäten (Aussprache deeden, mit geschlossenem e.)
  19. kaum ist hochdeutscher Ersatz für kasselänsch knapp (knapp hatte scheinbar schon früh die eigentliche Dialektform kumme, so noch in der ländlichen Umgebung von Kassel, verdrängt).
  20. Stammformen: gucken – gock – gegocken.
  21. gauzen „jaunern“.
  22. flochen „flogen“ (mit kurzem o auszusprechen).
  23. Kibbe „Tasche“.
  24. Mäßerchen: Pl. von Mäßchen „kleines Maß“; mundartliche Aussprache: Mooß (mit offenem o wie in Strooße), Meeßchen, Meeßerchen.
  25. Älteres gung hier durch hochdeutsch ging ersetzt.
  26. Betzel „Mütze“.
  27. Badentkabbe for d’s Schtreifen „patente (geeignete) Kappe fürs Stibitzen“.
  28. sich dricken „sich verdrücken, sich wegmachen“.
  29. schbrach „sprach“: hochdeutsch für seinerzeit durchaus noch geläufiges sproch (mit kurzem o).
  30. eh(e) ist hochdeutsch; dialektgemäßer: ehr, ehr daß.
  31. wanne = wann hä „wenn er“.
  32. nochher „nachher“: hochdeutsch beeinflußt, dialektgemäßer: nohher (oder hernoh „hernach“).
  33. kräsch: Stammformen krischen – krisch – gekrischen „schreien“). Krisch und gekrischen sind mit offenem i (bzw. geschlossenem e) zu sprechen. Kräsch mit ä-Laut ist südlich von Kassel vorkommende Aussprache. Durch Zuzug vom Land kommen bei den „kleinen Leute“ in Kassel z. T. ländliche Formen vor; „niederhessische Senkung“ auch unten bei ich bän „ich bin“, hänne „hin“, äs „ist“. Anders unten bei geschriwwen.
  34. Schdähl „Stiel“.
  35. wecken = weck „weg“.
  36. Hop „Hof“: Schreibung Hob wäre angemessener, Dativ: dem Howe, Pl. die Hewe (vgl. Libb „Leib“ und im Liewe „im Leib“).
  37. hat: besser wäre hadd’ „hatte“.
  38. näher, hochdeutsch für dialektgemäßeres neecher.
  39. In der Buchausgabe fälschlich und.
  40. verschriwwen „verschrieben“; hier die korrekte Kasseler Form und nicht ländliches verschräwwen.
  41. zwar ist hochdeutsch, dialektgemäßer: zwor (mit offenem o), zworsch.
  42. Buchzwicken „Bauchzwicken“.
  43. sah ist hochdeutscher Ersatz für saach.
  44. finget (mit „niederhessischer Hebung“): ich fange, du fingest, hä finget, mä fangen usw.
  45. In der Buchausgabe verdruckt: rutschst.
  46. angehängtes en = schwachtoniges enn „ihnen“.
  47. abbatschen „abhauen“.
  48. Krämpfe ist hochdeutsch; mundartlich: Kramp, Krämpe.
  49. In der Buchausgabe verdruckt: s’.
  50. verhibbet „verhüpft“.
  51. riechte = riecht hä „riecht er“.
  52. no (Aussprache mit offenem o, wie mo „mal“) „nach“.
  53. Ochse: korrektes Stadtkasselänsch. Im Umland Osse, so auch in einigen Kasseler Stadtteilen, die früher selbständige Dörfer waren; Spitzname der Harleshäuser: Ossen (vgl. auch ländlich wassen gegenüber kasselänsch wachsen).
  54. schnabben „herzhaft zulangend essen“.

Für KasselWiki erstellt von Werner Guth 2013.

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