„Wecke“

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Das Wort Brötchen kannte mein Kasseler Großvater natürlich, es gehörte allerdings nicht zu seinem aktiven Wortschatz. Mein Großvater ging zum Bäcker und „kief“ Wecke. Er aß sie nicht nur gern – besonders mit Gehacktem versehen als Mustenwecke –, die Wecke hatten auch eine, wenn man so will, bedeutende Rolle in seinem Leben gespielt: Als Schuljunge pflegte er morgens vor dem Unterricht für eine Bäckerei Wecke auszutragen – Quelle seines Taschengeldes. Wenn ich den Wörterbüchern vertrauen wollte, die vor mir auf dem Schreibtisch liegen, so dürfte es in Kassel das Wort Wecke eigentlich gar nicht geben oder gegeben haben. In Vilmars „Idiotikon von Kurhessen“ (1868) fehlt der Wecke, er fehlt auch in Grassows „Kasseler Wörterbuch“ [1894] sowie in Herwigs „Kasselänisch von A bis Z“ (1977). Friebertshäuser hat in seinem „Kleinen hessischen Wörterbuch“ (1990) einen Artikel Weck ‚Brötchen‘, nennt aber nur Ost- und Mittelhessen als Verbreitungsgebiet. Das nördliche Hessen: Fehlanzeige. Immerhin, Hofmanns „Niederhessisches Wörterbuch“ (1926) nennt Wegge wenigstens für Oberellenbach, Altkreis Rotenburg. Was hat denn nun mein Großvater ausgetragen? Vielleicht doch Brötchen? Spaß beiseite. Für Vilmar und Grassow war Wecke sicherlich derart geläufig, daß sie das Wort gar nicht zu den Dialektwörtern zählten. Zu Recht: das konkurrierende Wort Brötchen ist eine Neubildung des 18. Jahrhunderts und wurde in Nordhessen vermutlich als fremd und künstlich empfunden. Wenngleich in den Kasseler Wörterbüchern Wecke fehlt, so verzeichnet Grassow doch immerhin Weckewerk und Herwig Weggewergg sowie Musdenwegge. Geht man allerdings weiter in die Vergangenheit zurück, so wird man in puncto „Wecke in Nordhessen“ fündig: Hans Wilhelm Kirchhoff reimte in Band 3 seiner siebenbändi- gen Schwanksammlung „Wendunmut“ (entstanden 1563 bis 1603): wo der müller kein wecken schenckt, der fischer nach kein hechten denckt, glaub ich, daß noch am rechten henckt.

Kirchhoff wurde um 1525 in Kassel geboren, studierte in Marburg, war Gehilfe seines Vaters als Amtsverwalter in Kassel und wurde 1584 Burggraf in Spangenberg, wo er 1603 starb. Einen indirekten Wortbeleg Weck für die Schwalm bietet Erhard Georg von Lüder mit Wecksopp in seinem bekannten Kirmeslied (ca. 1730/50). Das Wort Weck, Wecke gehört zwar dem hessischen regionalen Wortschatz an, ist aber keineswegs eine hessische Spezialität. Weck und Wecken ‚längliches Brötchen‘ ist auch in süddeutschen und österreichischen Mundarten verbreitet. Im ausgehenden Mittelalter reimte der Tiroler Ritter Oswald von Wolkenstein (1377 – 1445):

ich waisz ain schöne mätzen dort oben an dem egg, die soltu mir erswätzen, das gilt dir würst und wegg.

Wecke kommt auch im Niederländischen vor, und zwar als wegge, weg ‚Keil, Weizenbrötchen‘. ‚Keil‘ ist offenbar die ursprüngliche Bedeutung des Wortes; vergleiche althochdeutsch weggi ‚Keil‘ (10. Jh.), mittelhochdeutsch wecke, wegge ‚Keil‘, aber auch ‚keilförmiges, mit zwei Spitzen versehenes Backwerk‘, also ein rautenförmiges (siehe hier-zu den gerauteten blau-weißen Weckenschild im bayrischen Wappen). Weiterhin: mittelniederdeutsch wegge, wigge ‚Keil, keilförmiges Weizenbrötchen‘ und altenglisch wecg ‚Keil, keilförmiges Stück (Kuchen)‘, außerdem altisländisch veggr ‚Keil‘ und schwedisch vigg(e) ‚Keil‘. Aus all diesen Belegen läßt sich als germanische Vorform *wagjaz ‚Keil‘ rekonstruieren (z = stimmhaftes s). Mit den außergermanischen Verwandten litauisch vãgis ‚Keil, Zapfen, Pflock‘ und lettisch vadzis ‚Keil‘ – abgesehen von entfernteren Verwandten im Lateinischen und Griechischen – läßt sich als indogermanische Vorform *wogwhjos ‚Keil‘ ansetzen. Zeitlich kommt man mit dieser Rekonstruktion zurück in die Jungsteinzeit. Was hätte wohl mein weckeaustragender Großvater dazu gesagt, wenn er gewußt hätte, daß er mit seinen Wecken zugleich mehr als 4000 Jahre Wortgeschichte transportierte . . .

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